Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
1. Einleitung
Rz. 927
Die Beteiligungsrechte des Betriebsrats in wirtschaftlichen Angelegenheiten sind in §§ 106–113 BetrVG geregelt. Der erste Unterabschnitt (§§ 106–110 BetrVG) befasst sich mit der Unterrichtung des Betriebsrats in wirtschaftlichen Angelegenheiten, die in der dort vorgesehenen Form (z.B. Bildung eines Wirtschaftsausschusses) nur dann erfolgen muss, wenn das Unternehmen i.d.R. mehr als 100 Arbeitnehmer beschäftigt. Der zweite Unterabschnitt (§§ 111–113 BetrVG) beschäftigt sich mit dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Arbeitnehmer zur Folge haben können. Diese Mitbestimmungsrechte – die häufig unter dem Stichwort "Interessenausgleichs- und Sozialplanpflicht" zusammengefasst werden – sind Gegenstand der folgenden Muster und Kommentierungen.
Rz. 928
Praxishinweis
Wichtig für das Verständnis der §§ 111 ff. BetrVG ist, dass diese besonderen Beteiligungsrechte bei Betriebsänderungen die sonstigen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nicht entfallen lassen. Die wirtschaftliche Mitbestimmung nach §§ 111 ff. BetrVG (und ggf. das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG) ist sozusagen "vorgeschaltet", bevor die individuellen Beteiligungsrechte des Betriebsrats hinsichtlich der einzelnen Arbeitnehmer greifen. Ist z.B. eine Betriebsänderung mit Kündigungen oder Versetzungen von Arbeitnehmern verbunden, muss der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat zunächst einen Interessenausgleich und Sozialplan gemäß §§ 111 ff. BetrVG verhandeln und ihn dann zusätzlich zu den Kündigungen anhören (§ 102 BetrVG) und die Zustimmung des Betriebsrats zu den Versetzungen einholen (§ 99 BetrVG). Eine Verbindung der Verfahren ist zwar möglich; der Arbeitgeber sollte eine solche aber gegenüber dem Betriebsrat ausdrücklich erklären und nie vergessen, dass es sich um verschiedene Verfahren handelt, deren Einhaltung er im Streitfall getrennt darlegen und beweisen muss.
2. Typischer Sachverhalt
Rz. 929
Die A-GmbH unterhält Betriebe in Göttingen, Hannover und Darmstadt, in denen jeweils ein Betriebsrat gewählt wurde. Ein Gesamtbetriebsrat ist ebenfalls gebildet. Die Geschäftsleitung beschließt, aufgrund marktbedingter Umsatzrückgänge und Preisverfall bei ihren Produkten einschneidende Restrukturierungsmaßnahmen durchzuführen. Sie will sich auf ihre Kernkompetenz konzentrieren und alle anderen Produktsparten abstoßen. Die Tätigkeit im Produktsegment C soll deshalb generell eingestellt werden. Hiervon sind 87 von insgesamt 460 Arbeitnehmern am Standort Hannover betroffen. Man hat allerdings einen Käufer gefunden, der die maßgeblichen Betriebsmittel des Betriebsteils am Standort Hannover übernehmen wird. Die Produktion am Standort Darmstadt soll mit den Aktivitäten am Standort Göttingen zusammengeführt und Synergien gehoben werden. Außerdem sollen insgesamt alle Arbeitsplätze überprüft werden und durch Umstrukturierungen von Arbeitsabläufen mindestens 320 Arbeitsplätze im Gesamtunternehmen abgebaut werden.
3. Rechtliche Grundlagen zum Interessenausgleich
Rz. 930
In Unternehmen mit in der Regel mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern muss der Unternehmer den Betriebsrat über geplante Betriebsänderungen rechtzeitig und umfassend unterrichten und die geplante Betriebsänderung mit ihm beraten (§ 111 S. 1 BetrVG).
a) Begriff der "Betriebsänderung"
Rz. 931
Was eine "Betriebsänderung" ist, ergibt sich in erster Linie aus den in § 111 S. 3 Nr. 1–Nr. 5 BetrVG aufgezählten Maßnahmen:
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Einschränkung oder Stilllegung des Betriebs oder wesentlicher Betriebsteile, |
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Verlegung des gesamten Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen, |
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Zusammenschluss oder Spaltung von Betrieben, |
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Grundlegende Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Betriebsanlagen, |
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Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren. |
Rz. 932
Die Beschreibung dessen, was unter den einzelnen Maßnahmen genau zu verstehen ist und wann sie vorliegen, würde den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Deshalb wird auf die einschlägigen Kommentierungen verwiesen. Es seien lediglich kurz die in der Praxis häufigsten Betriebsänderungen herausgegriffen und umschrieben.
aa) Betriebs(teil)stilllegung
Rz. 933
Eine Betriebsstilllegung bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des BAG die Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit. Eine Betriebsstilllegung findet ihren Ausdruck darin, dass der Arbeitgeber seine wirtschaftliche Betätigung einstellt.
Rz. 934
Auch die Stilllegung eines wesentlichen Betriebsteils ist eine Betriebsänderung. "Wesentlich" ist der Betriebsteil dann, wenn in ihm ein erheblicher Teil der Gesamtbelegschaft beschäftigt wird (quantitative Betrachtung). Dies ist der Fall, wenn die Anzahl der Mitarbeiter im Betriebsteil die Zahlenwer...