A. Morphologische Bildgutachten

[Autor] Bellmann/Brückner

I. Einleitung

 

Rz. 1

Neben der Identifizierung einer Person anhand eines Gesichtervergleichs stehen noch viele weitere Identifikationsverfahren zur Verfügung, wie die Fingerbilderkennung, Iriserkennung, Spracherkennung u.a.[1] Da neben dem Fingerabdruck das Gesicht zu den am besten zugänglichen Merkmalen eines Menschen gehört, besitzt es im forensischen Bereich eine große Relevanz, nicht zuletzt deshalb, da infolge der zunehmenden Videoüberwachung des öffentlichen Raumes auch mehr und mehr Bildmaterial zur Verfügung steht. Bei Gesetzesverstößen kann auf diese Aufzeichnungen zurückgegriffen werden, um die Identität bzw. Nichtidentität zwischen dem oder den Tätern und den vermuteten Personen zu überprüfen.

[1] Behrens M, Roth R, (eds) (2001), Biometrische Identifikation, Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig Wiesbaden.

II. Allgemeine Grundlagen

1. Identifizieren und Wiedererkennen

 

Rz. 2

Nach Knussmann[2] lässt sich eine Personenidentität im Rahmen einer forensischen Sachverhaltserforschung grds. auf der Grundlage zweier Prozesse nachweisen:

1. dem Wiedererkennen und
2. dem Vergleich zweier Abbilder (Identifizierung).

Beide Prozesse besitzen ein gemeinsames Ziel – die Zuordnung einer Person zu einer bestimmten Identität. Aus diesem Grund werden beide als Begriffe im täglichen Gebrauch häufig synonym verwandt, stehen jedoch streng genommen für völlig gegensätzliche Prozesse.

[2] Knussmann R (1983), Die vergleichende morphologische Analyse als Identitätsnachweis, StV 1983, 127 – 129.

a) Wiedererkennen

 

Rz. 3

Das Wiedererkennen von Personen ist ein Vorgang, der jeden Tag vielfach vonstattengeht, ohne dass der Einzelne sich dessen bewusst wird. Hier steht nicht die gerichtete und analytische, sondern die ganzheitliche Wahrnehmung im Vordergrund. Ein Vergleichen von einzelnen Merkmalen entfällt dabei vollkommen.[3] Wiedererkennen setzt einen gewissen Grad der Bekanntheit voraus. Von Wiedererkennen spricht man daher, wenn eine Person zu einem Zeitpunkt t1 wahrgenommen wurde und zu einem späteren Zeitpunkt t2 als die vorher Wahrgenommene bezeichnet wird. Dem Verarbeitungsprozess des Wiedererkennens liegen verschiedene theoretische Denkmodelle, wie z.B. die holistische Verarbeitung oder die lokale Konfiguration,[4] zugrunde. Insgesamt wird beim Wiedererkennen jedoch in Bruchteilen von Sekunden die betreffende Person in ihrer Gesamtheit mit Bewegungsmustern, Gestik, Mimik, Sprache, Aussehen u.a. erfasst und durch verschiedene Speicher- und Verarbeitungsprozesse einer (bereits bekannten) Person zugeordnet. Der Abgleich erfolgt dabei, ohne dass ein visuelles Vergleichsmaterial, z.B. ein Bild der betreffenden Person vorliegen muss.[5] Der Prozess des Wiedererkennens beruht somit auf[6]

Ganzheitlichkeit,
Geschwindigkeit,
Prägnanztendenz.

Wiedererkennen kann durch eine Vielzahl von Stimuli beeinflusst bzw. gestört werden, was die Gefahr einer Falschidentifizierung mit sich bringt.[7][8] Bei näherer Betrachtung oder aus einem anderen Blickwinkel heraus können sich die Beobachtungen verändern, zu anderen Mustern bzw. zu einem anderen Verarbeitungsprozess und daraus folgend zu einer anderen Personenzuordnung führen. Nach Valentine[9] werden ähnliche Gesichter in einem "Gesichtsraum" nahe beieinander gespeichert, unähnliche weiter entfernt. Dies führt dazu, dass ähnliche Gesichter eher verwechselt werden können. Bei Knussmann[10] wird daher dem Wiedererkennen kein Beweiswert im eigentlichen naturwissenschaftlichen Sinne zuerkannt.

[3] Brinker H, (1985), Identifizieren und Wiedererkennen – Bemerkungen zum Unterschied und zur Beweisqualität, Archiv für Kriminologie 176, 142 – 145.
[4] Leder H, (2001), Wenn Gesichter auf dem Kopf stehen: Was der Inversionseffekt für die Wiedererkennung von Gesichtern bedeutet. Psychologische Rundschau 52(2), 75 – 84.
[5] Sporer SL, (1992) Das Wiedererkennen von Gesichtern. Psychologie Verlags Union, Weinheim.
[6] Buhmann D, Helmer RP, Jaeger U, Jürgens HW, Knußmann R, Rösing FW, Schmidt HD, Szilvassy J, Ziegelmayer G, (1999), Standards für die anthropologische Identifikation lebender Personen nach Bildern, Kriminalistik 4, 246 – 248.
[7] Sporer SL, (1992), Das Wiedererkennen von Gesichtern, Psychologie Verlags Union, Weinheim.
[8] Havard C, Memon A, (2009), The influence of age on identification from a video line-up: A comparison be­tween older and younger adults. Memory 17(8), 847 – 859.
[9] Valentine T, (1991), A unified account of effects of distinctiveness, inversion and race on face recognition. Quarterly Journal of Experimental, Psychology 79, 471 – 491.
[10] Knussmann R, (1983), Die vergleichende morphologische Analyse als Identitätsnachweis. StV 1983, 127 – 129; Knussmann R, (1996), Vergleichende Biologie des Menschen, 2nd ed., Gustav Fischer, Stuttgart New York.

b) Identifizieren

 

Rz. 4

Die Unterscheidbarkeit von Individuen begründet sich auf der Heterogenität von Merkmalen und Merkmalskomplexen. Um festgestellte Merkmale einer Person zuordnen zu können, müssen u.a. folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

es muss Vergleichsmaterial vorliegen,
die Merkmale müssen prinzipiell vergleichbar...

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