Rz. 139
Es ist verständlich, dass v.a. Rechtsanwälte, ihre Haftpflichtversicherer und ihnen nahestehende Autoren zuweilen insb. die Anforderungen der Rechtsprechung an die anwaltlichen Vertragspflichten als überzogen bewerten. Rechtsanwälte nutzen ihr weitgehendes Beratungsmonopol auf vielfältigen Rechtsgebieten; die damit verbundene Arbeitslast und der ständige Zeit-, Konkurrenz- und Kostendruck wecken zwangsläufig den Wunsch, die allgegenwärtige Haftungsgefahr zu mildern. Dabei geraten die Belange der rechtsuchenden Mandanten, deren Schutz die anwaltlichen Vertragspflichten dienen, leicht in den Hintergrund.
Rz. 140
Unverständlich und bedauerlich sind jedoch diejenigen Stimmen in der Literatur, die mit ihren Formulierungen die Rechtsprechung zu den vertraglichen Anwaltspflichten in ein falsches Licht rücken.
Da ist z.B. davon die Rede,
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nach der Rechtsprechung müsse der pflichtgemäß arbeitende Rechtsanwalt "ein juristischer Supermann sein, der über ein computerhaftes Gedächtnis, ein hervorragendes Judiz sowie über höchste Intelligenz und Energie" verfüge; |
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die Rechtsprechung verlange vom Anwalt eine menschenunmögliche Leistung, indem man einen irreal hohen Wissensstand und einen praktisch nicht einzuhaltenden Sorgfaltsstandard voraussetze; |
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der BGH weite den vertraglichen Pflichtenkreis des Anwalts bis an die Grenze des Möglichen aus; er fordere die totale und optimale Wahrung der Mandantenbelange und lasse die Pflicht zu Höchstleistungen ihre Grenze nur an der Unmöglichkeit finden; |
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die Rechtsprechung verlange auch "vom Feld-, Wald- und Wiesenanwalt regelmäßig umfassende Kenntnis des relevanten Rechts"; da der BGH optimale Anwaltsleistung fordere, übernehme der Anwalt insoweit "eine grundsätzliche Garantiehaftung"; zurzeit hafte dieser "für jede suboptimale Leistung". |
Rz. 141
Solche Formulierungen mögen geeignet sein, einem Unbehagen in der Anwaltschaft an der – als "anwaltsfeindlich" empfundenen – Rechtsprechung Ausdruck zu geben, mit der Realität hat diese Kritik aber wenig gemein. Umso befremdlicher wirkte es, dass eine Kammer des BVerfG dieser Voreingenommenheit ggü. der Rechtsprechung Vorschub leistete, indem in einem Fall, in dem ein Rechtsanwalt seinen Mandanten gleich durch drei schuldhafte Pflichtverletzungen in zwei Gerichtsverfahren geschädigt hatte, auf die (erfolglose) Verfassungsbeschwerde des haftenden Anwalts dem BGH unterstellte, er lasse "Rechtsanwälte … ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung" haften, "nur weil sie haftpflichtversichert" seien. Diese Entscheidung ist zwischenzeitlich korrigiert worden. In einem Beschl. v. 22.4.2009 hat das BVerfG die Rechtsprechung des BGH ausdrücklich bestätigt, insb. dass eine Haftung des Rechtsanwalts im Regelfall auch dann anzunehmen ist, wenn ein Fehler des Gerichts mitursächlich für den Schaden geworden ist (näher vgl. Rdn 237).