a) Allgemeines
Rz. 52
Hat der beauftragte Rechtsanwalt den zur Erledigung seines Auftrags maßgeblichen Sachverhalt ermittelt, so beginnt seine vornehmste und wichtigste Aufgabe, diesen Sachverhalt im Hinblick auf das von seinem Mandanten erstrebte Ziel – sorgfältig und "nach jeder Richtung" – rechtlich zu prüfen. Erst nachdem der Rechtsanwalt selbst die Rechtslage festgestellt hat, kann er seiner Vertragspflicht gerecht werden, seinen Auftraggeber in den Grenzen des Mandats umfassend und möglichst erschöpfend zu belehren, ihm geeignete Ratschläge für das weitere Vorgehen zu empfehlen und ihn in jeder Richtung – auch ggü. Gerichten und Behörden – zu betreuen.
Kann ein Begehren des Mandanten auf mehrere selbstständige Ansprüche gestützt werden, muss der Anwalt die Grundlagen aller Ansprüche (z.B. fehlerhafter Transport sowie unzureichende Versicherung verschiffter Güter) prüfen und die Ansprüche bei Begründetheit geltend machen.
Rz. 53
Dies gilt für jedes Mandat, gleichgültig, ob es die Vertretung in einem Prozess oder sonstigen Verfahren (vgl. Rdn 152 ff.), eine außergerichtliche Beratung (vgl. Rdn 308 ff.) oder eine Vertrags- oder sonstige Rechtsgestaltung (vgl. Rdn 323 ff.) zum Gegenstand hat. Zur Rechtsprüfung gehört auch die Überwachung materieller und prozessualer Fristen; allein die Versäumung solcher Fristen durch Rechtsanwälte soll mehr als 40 % aller Haftpflichtfälle auslösen und damit die größte Fehlerquelle anwaltlicher Tätigkeit sein.
Rz. 54
Die Pflicht des Rechtsanwalts zur vertragsgerechten Rechtsprüfung vielfältiger Rechtsgebiete stellt hohe Anforderungen. Diese Pflicht verlangt regelmäßig, dass der Anwalt zusätzlich zu seinem bereits vorhandenen Wissen weitere, mandatsbezogene Kenntnisse hinzuerwirbt (vgl. Rdn 58 ff.).
Rz. 55
Der mühevollen Arbeit – i.d.R. als erster –, das Rechtsdickicht zu lichten, ist der Rechtsanwalt auch bei einem Prozess- oder sonstigen Verfahrensauftrag nicht enthoben. Er kann die Rechtsprüfung nicht nach dem Satz "iura novit curia" dem Gericht überlassen und sich auf die Beibringung des Tatsachenmaterials beschränken. Vielmehr hat der Rechtsanwalt die Vertragspflicht, alle zugunsten seines Auftraggebers sprechenden tatsächlichen (vgl. Rdn 224 ff.) und rechtlichen (vgl. Rdn 236 ff.) Gesichtspunkte dem Gericht darzulegen und damit auch Fehlern des Gerichts entgegenzuwirken. Zwar weist die ZPO die Entscheidung und damit die rechtliche Beurteilung des Streitfalls dem Gericht zu. Es widerspräche jedoch der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen, würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspricht im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht erhöht, wenn sie nicht rechtzeitig behoben wird, das Risiko eines gerichtlichen Irrtums oder Versehens und wird für eine darauf beruhende Fehlentscheidung mitursächlich, sodass der daraus folgende Schaden des Mandanten dem Rechtsanwalt – auch nach dem Schutzzweck der verletzten Vertragspflicht – grds. haftungsrechtlich zuzurechnen ist (vgl. § 5 Rdn 54 ff.). Das bedeutet keine Pflicht zur Weitschweifigkeit oder etwa zum Vortrag zu einer am Rande womöglich auch noch einschlägigen, aber zur Lösung des Falles nicht erforderlichen Rechtsnorm.
Zwar obliegt die rechtliche Beurteilung des Streitfalls dem Gericht; dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Aber auch der Rechtsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) hat dazu beizutragen, das Recht im Einzelfall zu verwirklichen; innerhalb ihrer verschiedenen Funktionen sind die Pflichten des Gerichts und des Rechtsanwalts gleichrangig. Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) setzt voraus, dass die Verfahrensbeteiligten auf die Entscheidung des Gerichts einwirken; dieses muss die Argumente der Parteien zur Kenntnis nehmen und bei der Entscheidungsfindung erwägen. Die Mitverantwortlichkeit des Rechtsanwalts für ein richtiges Urteil besteht – entgegen einer Entscheidung des RG – auch im Revisionsverfahren.
Rz. 56
Entsprechend den vorstehenden Ausführungen hat der Rechtsanwalt als Verteidiger im Strafverfahren das Gericht auf eine Verjährung der Strafverfolgung hinzuweisen, obwohl dieses von Amts wegen den Sachverhalt nach allen Richtungen hin zu untersuchen hat.