Rz. 229
Inhalt und Umfang des tatsächlichen Vortrags hängen davon ab, auf welche Rechtsgrundlagen ein geltend gemachter Anspruch bzw. eine Einwendung gestützt wird. Daher besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sach- und Rechtsvortrag. Gibt die rechtliche Beurteilung wegen der Tatsachenlage oder der Auffassungen im Schrifttum und in der Rechtsprechung zu ernsthaften Zweifeln Anlass, muss der Rechtsanwalt auch in Betracht ziehen, dass sich die zur Entscheidung berufene Stelle einer seinem Auftraggeber ungünstigeren Beurteilung der Rechtslage anschließt; der Rechtsanwalt muss daher möglichst so vortragen, dass sein Auftraggeber auch in diesem Fall keinen Nachteil erleidet. Dies gilt v.a. dann, wenn der Rechtsanwalt seinen Vortrag so einrichten kann, dass er sowohl seiner eigenen Rechtsansicht gerecht wird als auch derjenigen, die möglicherweise das Gericht oder die entscheidende Behörde vertreten könnte. Weiß der Rechtsanwalt oder muss er bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt davon ausgehen, dass das Gericht seine Rechtsauffassung nicht teilt, dann ist er, soweit dies möglich ist, auch verpflichtet, durch hilfsweise Prozesshandlungen bzw. vorsorglichen Vortrag der Rechtsansicht des Gerichts Rechnung zu tragen, um für den Mandanten den größtmöglichen Vorteil im Prozess zu erreichen. Kann die Klage auf verschiedene rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, so ist der Sachvortrag so zu gestalten, dass alle in Betracht kommenden Gründe i.R.d. zur Verfügung stehenden Möglichkeiten konkret dargelegt werden. Davon kann auch dann keine Ausnahme gemacht werden, wenn der Rechtsanwalt zu Recht die vom Gericht vertretene Meinung oder einen ihm nach § 139 ZPO erteilten Hinweis für falsch hält. Ein Rechtsanwalt darf nicht darauf vertrauen, seine Auffassung werde die Billigung der Gerichte finden, selbst wenn sie in einem angesehenen Kommentar vertreten wird, aber von der Mehrheitsmeinung abweicht. Will der Rechtsanwalt einen weniger sicheren Weg gehen, muss er zumindest seinen Auftraggeber zuvor über die daraus folgenden Gefahren belehren und die weitere Vorgehensweise von der Entscheidung des Auftraggebers abhängig machen (zur Aufklärung über das Prozessrisiko siehe Rdn 179–191).
Was im Einzelfall geboten ist, hängt von den gesamten Umständen ab, insb. davon, was der Mandant begehrt, sowie dem Inhalt des erteilten Mandats. Der Rechtsanwalt hat sich nur mit den tatsächlichen Angaben zu befassen, die zur pflichtgemäßen Erledigung des ihm übertragenen Auftrages zu beachten sind. Er braucht sich grds. nicht um die Aufklärung von Vorgängen zu bemühen, die weder nach den vom Auftraggeber erteilten Informationen noch aus Rechtsgründen in einer inneren Beziehung zu dem Sachverhalt stehen, aus dem der Mandant einen Anspruch gegen seinen Vertragspartner herzuleiten beabsichtigt.
Rz. 230
Ein Rechtsanwalt darf auch nicht völlig auf den Erfolg der von ihm vorgebrachten hauptsächlichen Verteidigungsmittel, also etwa auf Einwendungen gegen die Zulässigkeit einer Klage oder gegen den Grund einer Klage vertrauen. Aus der allgemeinen Pflicht, von mehreren in Betracht kommenden Maßnahmen diejenige zu treffen, welche drohende Nachteile am sichersten vermeidet (vgl. Rdn 113–120), folgt, dass ein Rechtsanwalt vorsorglich alle in Betracht kommenden Einwendungen gegen eine Klage geltend machen muss, also etwa verschiedene in Betracht kommende Einwendungen zur Sache schon dem Grunde nach, aber auch zur Höhe des von der Gegenseite geltend gemachten Anspruchs. Er darf sich nicht darauf verlassen, dass das Gericht ihm noch rechtzeitig einen Hinweis erteilen und Gelegenheit geben werde, sein Vorbringen zu ergänzen, wenn es die vorgetragene Verteidigung für nicht erheblich hält. Insoweit gilt auch nichts anderes nach der Neufassung des § 139 ZPO, der eine umfassende Hinweispflicht des Gerichts vorsieht. Diese Hinweispflicht des Gerichts führt nicht zu einer Entlastung des Rechtsanwalts, umfassend im Prozess vorzutragen. Erteilt ein Gericht einen Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung, darf es nicht entscheiden, ohne zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Kann der Anwalt – ggf. nach einer Unterbrechung der Verhandlung – sich nicht sofort äußern, muss er eine spätere Gelegenheit einfordern und entweder Vertagung oder Schriftsatzfrist verlangen. Den Rechtsanwalt entlastet es auch nicht, wenn er im Einklang mit dem Willen des Mandanten handelt. Der Rechtsanwalt darf einen möglicherweise entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht zurückhalten, ohne den Mandanten auf die damit verbundenen Risiken hingewiesen zu haben. So handelt ein Rechtsanwalt pflichtwidrig, der in seinem schriftsätzlichen Vortrag von einer für seinen Auftraggeber rechtlich vorteilhaften Einwendung deshalb absieht, weil er meint, dieser Vortrag sei für seinen Mandanten ehrenrührig oder kreditgefährdend, es sei denn, dass er den Auftraggeber über die Vor- und Nachteile dieses Sachvortrags aufgeklärt und dessen Zustimmung eingeholt hat.