Rz. 369
Der Rechtsanwalt ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3 Abs. 1 BRAO). Die Wahrnehmung anwaltlicher Aufgaben setzt den unabhängigen, verschwiegenen und nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichteten Rechtsanwalt voraus. Der Mandant, welcher dem Anwalt die Schließung eines Anwaltsvertrages anträgt, darf von diesem Leitbild eines Rechtsanwalts ausgehen. Nimmt der Anwalt das Mandat an, erklärt er damit seine Bereitschaft, fortan die Interessen des Mandanten ohne Rücksicht auf die Interessen Dritter umfassend zu vertreten.
Die Pflicht des Rechtsanwalts, Interessenkollisionen zu vermeiden, ist in ihrer Bedeutung mit der Pflicht zur Verschwiegenheit vergleichbar. Auch diese Pflicht ergibt sich aus dem Anwaltsvertrag. § 146 StPO schreibt für Strafverfahren vor, dass ein Verteidiger nicht gleichzeitig mehrere derselben Tat Beschuldigte verteidigen darf. In einem Verfahren kann er auch nicht gleichzeitig mehrere verschiedener Taten Beschuldigte verteidigen. Ob ein Verstoß des Rechtsanwalts gegen § 146 StPO einen Untergang des Honoraranspruchs zur Folge hat, hat der BGH bislang offengelassen. Der Anwaltsvertrag ist jedoch in diesem Fall gem. § 134 BGB nichtig. Ein Honoraranspruch, der bereits entstanden ist, bevor gegen § 146 StPO verstoßen wurde, bleibt jedoch grds. bestehen. Ein Schadensersatzanspruch oder Anspruch auf Befreiung von einer Verbindlichkeit des Mandanten wegen dieser Pflichtverletzung kommt jedoch insoweit in Betracht, als die von dem Anwalt verdienten Gebühren bei einem neuen Anwalt erneut anfallen. Zu dem Fall, dass ein Anwalt beide scheidungswillige Ehepartner berät, vgl. Rdn 199, 371 ff.
Rz. 370
§ 43a Abs. 4 BRAO bestimmt allgemein, dass ein Rechtsanwalt keine widerstreitenden Interessen wahrnehmen darf (vgl. dazu § 1 Rdn 48–55). § 3 BORA konkretisiert diese Regelung. Danach darf ein Rechtsanwalt nicht tätig werden, wenn er, gleich in welcher Funktion, eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise i.S.d. §§ 45, 46 BRAO beruflich befasst war. Der Anwaltssenat des BGH legt das restriktiv aus: Ob widerstreitende Interessen bestehen und vertreten werden, könne nicht ohne Blick auf die konkreten Umstände des Falles beurteilt werden. Maßgeblich sei, ob der in den anzuwendenden Rechtsvorschriften typisierte Interessenkonflikt im konkreten Fall tatsächlich auftrete. Was den Interessen des Mandanten und damit zugleich der Rechtspflege diene, könne nicht ohne Rücksicht auf die konkrete Einschätzung der hiervon betroffenen Mandanten abstrakt und verbindlich festgelegt werden. Die Vorschrift des § 43a Abs. 4 BRAO schränke das Grundrecht der freien Berufsausübung der Rechtsanwälte nach Art. 12 Abs. 1 GG ein. Ihre Auslegung habe sich daran zu orientieren, dass jeder Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit durch hinreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein müsse und nicht weiter gehen dürfe, als die rechtfertigenden Gemeinwohlbelange es erfordern. Eingriffszweck und Eingriffsintensität müssten in einem angemessenen Verhältnis stehen. Im Interesse der Rechtspflege verlange § 43a Abs. 4 BRAO lediglich, dass im konkreten Fall die Vertretung widerstreitender Interessen vermieden werde. Das Anknüpfen an einen möglichen, tatsächlich aber nicht bestehenden (latenten) Interessenkonflikt verstoße gegen das Übermaßverbot und sei verfassungsrechtlich unzulässig.
Aus dem Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen kann sich im Wege der Auslegung ergeben, dass ein Anwaltsvertrag nicht zustande kommt. Stellen Freunde eines in Untersuchungshaft sitzenden Mandanten dessen Rechtsanwalt darlehenshalber (im Verhältnis zum Mandanten) Gelder für eine Kaution zur Verfügung, kommt zwischen den Geldgebern und dem Anwalt kein Anwaltsvertrag zustande; er hat demgemäß ggü. den Geldgebern auch keine Beratungspflicht bzgl. der Sicherung der Gelder vor Pfändungsmaßnahmen von Gläubigern des Beschuldigten. Der Rechtsanwalt handelt hier regelmäßig allein im Interesse seines Mandanten. Wegen des Verbots widerstreitender Interessen darf und will er i.d.R. nicht auch für die Geldgeber anwaltlich tätig werden.
Rz. 371
Widerstreitende Interessen liegen allerdings nicht schon dann vor, wenn der Rechtsanwalt sich ggü. mehreren Mandanten verpflichtet, Forderungen gegen ein und denselben Schuldner durchzusetzen, insb. die Zwangsvollstreckung gegen diesen zu betreiben. In einem solchen Fall kann zwar der Erfolg des einen Mandanten den Misserfolg des anderen Mandanten, der nicht mehr zum Zuge gekommen ist, bedeuten. Das wäre aber nicht anders, wenn die Mandanten von unterschiedlichen Rechtsanwälten vertreten würden. Die Mandatsverträge verpflichten den Anwalt nur, für jeden einzelnen Mandanten das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Bevorzugt der Anwalt den einen vor dem anderen Mandanten, indem er Anträge bevorzug...