I. Tätigkeitsbezogene Pflichten
Rz. 151
Aus den allgemeinen Pflichten des Rechtsanwalts (vgl. Rdn 1–150) lassen sich für die typischen Bereiche der anwaltlichen Berufsausübung, also für die prozessuale, beratende und vertragsgestaltende Anwaltstätigkeit, spezielle tätigkeitsbezogene Pflichten ableiten. Diese Pflichten können im Einzelfall ineinander übergehen. Hiervon abzugrenzen sind diejenigen Pflichten, die ein Rechtsanwalt zu beachten hat, wenn er eine anwaltsfremde oder eine amtliche bzw. amtsähnliche Tätigkeit ausübt (vgl. § 1 Rdn 161 ff.). Dabei handelt es sich nicht um typische Fragen der Anwaltshaftung. Vielmehr gelten dann die allgemeinen Regeln zur Haftung eines Vermögensverwalters, Anlageberaters, Maklers, Vormunds (§ 1833 BGB), Testamentsvollstreckers (§ 2219 BGB), Insolvenzverwalters (§ 60 Abs. 1 Satz 1 InsO) usw. Von den tätigkeitsbezogenen Pflichten werden auch diejenigen Fälle nicht erfasst, in denen v.a. die fehlerhafte Beurteilung von Rechtsnormen die anwaltliche Pflichtverletzung begründet (zu den Pflichten des Rechtsanwalts bei der Rechtsprüfung vgl. Rdn 52 ff.). Es würde zu weit führen und die hier behandelte Thematik sprengen, allgemein auf die Rechtsgrundlagen der anwaltlichen Berufsausübung und die Ursachen anwaltlicher Pflichtverletzungen bei der Rechtsprüfung einzugehen. Hierzu wird auf die Darstellungen zu den Verfahrensrechten und zum materiellen Recht, aber auch zur BRAO und zur BORA verwiesen.
1. Prozessuale Tätigkeit
Rz. 152
Die Vertretung des Auftraggebers in einem gerichtlichen Verfahren ist das klassische Betätigungsfeld der Rechtsanwälte. Die Pflichten, die ein Rechtsanwalt dabei zu beachten hat, werden im Folgenden nach den einzelnen Verfahrensabschnitten dargestellt. Einzelne Pflichten bestehen bereits im Vorfeld eines Prozesses bzw. bei einer vor- oder außerprozessualen Erledigung eines streitigen Rechtsverhältnisses, etwa durch Abschluss einer Vergleichsvereinbarung. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen steht die Vertretung des Auftraggebers vor den ordentlichen Gerichten in Zivilsachen. Die anwaltlichen Pflichten bei der Vertretung in einem gerichtlichen Verfahren gelten entsprechend auch für die Vertretung des Mandanten in einem Verwaltungsverfahren, insb. in einem Einspruchs- oder Widerspruchsverfahren, und in einem schiedsrichterlichen Verfahren.
Zur prozessualen Tätigkeit hat der BGH den allgemeinen Grundsatz aufgestellt, dass ein Rechtsanwalt, der die Beratung einer Partei in einem Zivilprozess übernimmt, zum Schadensersatz verpflichtet ist, wenn er durch sein Verschulden bewirkt, dass sein Auftraggeber einen Rechtsstreit verliert, den er bei sachgemäßer Vertretung gewonnen hätte. Ein Rechtsanwalt, der eine Prozessvertretung übernimmt, ist grds. verpflichtet, die Prozesslage in rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Diese allgemeinen Aussagen sind bzgl. der einzelnen tätigkeitsbezogenen Pflichten des Rechtsanwalts zu präzisieren.
a) Beweissicherung
Rz. 153
Ein Rechtsanwalt ist nach Übernahme des Mandats verpflichtet, den rechtlich relevanten Sachverhalt zu ermitteln (vgl. Rdn 37–51). Dazu gehört die Pflicht, Beweise zu sichern.
aa) Befragung des Auftraggebers
Rz. 154
Ein Rechtsanwalt muss geeignete Beweismittel ermitteln, indem er den Auftraggeber hierzu gezielt befragt. Allerdings ist der Rechtsanwalt nicht verpflichtet, in irgendeiner Form an Zeugen heranzutreten, um zu klären, wie diese im Fall einer Vernehmung aussagen werden. Eine derartige "Parteivernehmung" von Zeugen wird von der Rechtsprechung als bedenklich bezeichnet. Sie könne dazu führen, dass der Beweiswert einer Zeugenaussage gemindert und der Rechtsanwalt dem Verdacht einer unzulässigen Zeugenbeeinflussung ausgesetzt werde. Dabei ist jedoch auch zu beachten, dass es in der Praxis vielfach unumgänglich ist, zur Ermittlung der einer Klage oder Klageerwiderung zugrunde zu legenden Tatsachen und zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsstreits mit möglichen Zeugen Kontakt aufzunehmen. Vgl. dazu auch Rdn 42.
Steht kein Beweismittel zur Verfügung und hat deshalb eine wichtige Klage keine oder nur geringe Aussicht auf Erfolg, ist zu prüfen, ob der Anspruch abgetreten werden kann, um die Partei sodann als Zeugen benennen zu können. Ist eine Abtretung nicht möglich, etwa wegen eines Abtretungsverbotes, sind andere Möglichkeiten zu erwägen, etwa auch die Ablösung des Geschäftsführers einer GmbH, damit dieser anschließend als Zeuge benannt werden kann. Diese Möglichkeiten samt ihren Vor- und Nachteilen sind mit ...