Rz. 57
Die Behauptung, die Rechtsprechung erwarte vom Rechtsanwalt "eine im Wesentlichen lückenlose Gesetzeskenntnis", ist in dieser Allgemeinheit falsch (vgl. Rdn 139 ff.). Eine entsprechende Forderung wäre irreal und – auch für Richter – unerfüllbar.
aa) Mandatsbezogen
Rz. 58
Die Rechtsprechung erwartet vielmehr (nur) eine mandatsbezogene Rechtskenntnis; maßgeblicher Zeitpunkt ist insoweit der Zeitpunkt der Beratung. Der Mandant kann von dem Anwalt die Kenntnis der einschlägigen Rechtsnormen erwarten. Das bedeutet, dass der Rechtsberater sich Kenntnis derjenigen Rechtsgrundlagen, höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. Rdn 77 ff.) und – eingeschränkt – derjenigen Literatur (vgl. Rdn 85) verschaffen muss, die Ziel und Gegenstand des Mandats betreffen und damit zur fehlerfreien Erledigung des Mandats erforderlich sind.
Rechtsprüfung und Rechtsberatung setzen zwingend die Kenntnis der einschlägigen Rechtsnormen voraus, zu denen auch die auf der Grundlage von Bundesgesetzen erlassenen Rechtsverordnungen gehören. Notfalls muss sich der anwaltliche Berater die mandatsbezogenen Rechtskenntnisse, soweit sie nicht zu seinem präsenten Wissen gehören, unverzüglich verschaffen. Er muss sich auch die einschlägigen privaten Rechtsquellen (z.B. Verträge, Versicherungsbedingungen, Tarifverträge) erschließen, die die vertragsgerechte Erledigung seines konkreten Auftrags betreffen. Betrifft das Mandat eine Spezialmaterie, muss er sich in diese einarbeiten.
Eine Pflichtverletzung des Anwalts, der eine einschlägige Rechtsnorm übersehen hat, kann nicht deshalb verneint werden, weil es sich dabei um eine entlegene Rechtsmaterie handelt, etwa die Verordnung über Herstellung und Vertrieb von Medaillen und Marken, welche Einkaufswagen-Chips bestimmter Form verbietet. Das Auffinden einschlägiger Normen des untergesetzlichen Rechts kann Schwierigkeiten bereiten, etwa die Ermittlung von einschlägigen (auch: für allgemeinverbindlich erklärten) Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen oder betrieblichen Übungen. Auch der Mandant wird da häufig keine große Hilfe sein. In solchen Fällen muss der Anwalt notfalls auch beim Betriebsrat, bei der Gewerkschaft oder beim Arbeitgeber nachfragen.
Drängt sich einem Rechtsanwalt der Eindruck auf, ein Gesetz, das bei der Wahrnehmung des Mandats zu berücksichtigen ist, sei verfassungswidrig, sollte er unverzüglich einen Spezialisten für Verfassungsrecht hinzuziehen, wenn er insoweit nicht über ausreichende eigene Sachkunde verfügt; das gilt v.a. bei einem Prozessmandat, weil Grundrechtsrügen in einem Verfahren von vornherein zu erheben sind.
Der Rechtsberater darf allerdings grds. von der Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Gesetze, insb. der Steuergesetze ausgehen. Die Verwaltung und die Gericht haben (nachkonstitutionelle) Gesetze trotz Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit anzuwenden. Erst wenn ein Gericht von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist, hat es die Sache nach Art. 100 GG dem BVerfG vorzulegen. Für den Rechtsberater kann sich deshalb nur ausnahmsweise die Pflicht ergeben, auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit hinzuweisen. Dies ist etwa anzunehmen, wenn ein FG oder der BFH einen Vorlagebeschluss an das BVerfG nach Art. 100 GG gefasst hat; es kann auch anzunehmen sein, wenn ein FG oder der BFH mit einer entsprechenden Begründung die Vollziehung eines Steuerbescheides gem. § 69 FGO ausgesetzt hat. Allerdings haben auch Vorlagebeschlüsse nach Art. 100 GG keine große Erfolgsquote; häufig werden sie vom BVerfG schon als unzulässig angesehen. Der Mandant kann sich aber die Vorteile einer möglichen, für ihn positiven Entscheidung häufig dadurch sichern, dass das Verfahren nach § 363 AO ausgesetzt oder zum Ruhen gebracht wird. Der Rechtsberater hat nach Beratung und Weisung des Mandanten entsprechende Anträge zu stellen.
Rz. 59
Diese Grundsätze sind auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Norm trotz abweichender Voraussetzungen für eine Vorlage an den EuGH entsprechend anwendbar. Unterlässt das letztinstanzlich entscheidende und damit gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlagepflichtige nationale Gericht trotz Zweifeln an der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsnorm mit dem Gemeinschaftsrecht die Vorlage an den EuGH, kann der Betroffene die Vorlage über das BVerfG mit der Rüge des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erzwingen. Davon abgesehen ist aber jedes auch unterinstanzliche nationale Gericht berechtigt, wenn auch verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, eine entscheidungserhebliche Frage zur Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem EU-Recht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen. Der Rechtsberater muss seinen Mandanten also auf die mögliche Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer nationalen Norm hinweisen, wenn hierfür starke Indizien bestehen, etwa weil ein Gericht bereits eine Vorlage an den EuGH veranlasst hat, trotz starker eigener Bedenken von einer Vorlage abgesehen hat oder wenn eine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit in den Fachkreisen erns...