Rz. 236
Die Partei selbst ist grds. nicht gehalten, ihre Rechtsansicht dem Gericht mitzuteilen. Das Gericht hat die von den Parteien unterbreiteten Tatsachen von Amts wegen rechtlich zu bewerten. Es gilt der Grundsatz "iura novit curia". Die Partei hat daher nur diejenigen Tatsachen vorzutragen, welche die Voraussetzungen einer Anspruchsnorm oder einer Einwendung gegen einen geltend gemachten Anspruch ausfüllen.
(1) Verhinderung gerichtlicher oder behördlicher Fehler
Rz. 237
Nach gefestigter Rechtsprechung des BGH ist der Rechtsanwalt ggü. seinem Mandanten aber verpflichtet, die zu dessen Gunsten sprechenden rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich zu ermitteln und dafür einzutreten, dass sie bei der Entscheidung des Gerichts oder sonst entscheidenden Stelle berücksichtigt werden. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene rechtliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit des Irrtums ist es die Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken. Der Rechtsanwalt ist also vertraglich verpflichtet, einer gerichtlichen Fehlentscheidung entgegenzuwirken. Daher muss er alles – einschließlich Rechtsausführungen – vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann. Kann die Klage auf verschiedene rechtliche Ansprüche gestützt werden, ist der Sachvortrag so zu gestalten, dass alle in Betracht kommenden Gründe im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten konkret dargelegt werden. Die streitentscheidenden Gesichtspunkte sind mit der gebotenen Deutlichkeit zum Gegenstand des Rechtsstreits zu machen.
Schon § 137 Abs. 2 ZPO zeigt, dass es Aufgabe des Anwalts ist, zum Streitverhältnis in rechtlicher Beziehung vorzutragen. Der Anwalt hat, ebenso wie der Richter, die Befähigung zum Richteramt oder eine gleichwertige Qualifikation (§ 4 Abs. 1 BRAO). Der Anwaltszwang (§ 78 ZPO) wäre nicht zu rechtfertigen, wenn Aufgabe der Anwälte allein die Beibringung des Tatsachenmaterials wäre. Die Rechte und Pflichten des Rechtsanwalts richten sich außerdem im Verhältnis zum Mandanten v.a. nach dem zwischen ihnen geschlossenen Vertrag. Danach darf der Mandant entsprechend der Verkehrsauffassung erwarten, dass der Anwalt auch die rechtlichen Grundlagen des Falls durchdenkt und entsprechend vorträgt. Dies entspricht auch § 1 Abs. 3 BORA.
Die Pflicht, den Mandanten vor Fehlentscheidungen des Gerichts zu bewahren, besteht auch in Verfahren, in denen das Amtsermittlungsprinzip gilt.
In einem Beschluss vom 12.8.2002 hatte das BVerfG allerdings in missverständlicher Weise ausgeführt, die Gerichte seien nicht legitimiert, den Rechtsanwalt auf dem Umweg über den Haftungsprozess die Verantwortung für die richtige richterliche Rechtsanwendung dadurch zu überbürden, indem ihnen angelastet wird, es pflichtwidrig unterlassen zu haben, das Gericht auf seine falsche Rechtsauffassung hinzuweisen.
Inzwischen hat das BVerfG jedoch in einem Beschluss vom 22.4.2009 bestätigt, dass die genannte Rechtsprechung des BGH sich von den allgemeinen Grundsätzen des Schadensersatzrechts nicht dadurch entfernt, dass eine Haftung des Rechtsanwalts im Regelfall auch dann angenommen wird, wenn ein Fehler des Gerichts, insb. bei der rechtlichen Aufarbeitung des Falles, für den Schaden einer Prozesspartei mitursächlich geworden ist. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden gegen dies Rechtsprechung nicht. Auch die Hinweise in der früheren Entscheidung auf die nicht schlechthin in jedem Fall gerechtfertigte Haftungsverschiebung zulasten des Rechtsanwalts seien nur in dem Zusammenhang zu sehen, dass der Zurechnungszusammenhang ausnahmsweise durch den hinzutretenden Fehler des Gerichts unterbrochen werden könne. Die haftungsrechtliche Verantwortung sei nicht von Verfassungs wegen ausschließlich den Gerichten übertragen. Damit ist geklärt, dass die vom BGH angenommene Pflicht des Rechtsanwalts, Fehlern des Gerichts entgegenzuwirken, und seine daraus bei Pflichtverletzung entspringende Haftung verfassungsrechtlich unbedenklich ist.
Allerdings kann in besonderen Fällen bei einem Fehler des Gerichts die Adäquanz des Fehlers des Anwalts für den Schaden oder der Zurechnungszusammenhang zwischen Pflichtverletzung des Anwalts und Schaden entfallen (vgl. § 5 Rdn 54 ff.).
Rz. 238
Ein Rechtsanwalt verletzt seine Pflichten aus dem Anwaltsvertrag, wenn eine erforderliche Beweiserhebung nicht durchgeführt wird, weil der Rechtsanwalt es versäumt hat, einen gerichtlichen Beweisbeschluss zu überprüfen, und deswegen nicht bemerkt hat, dass das Gericht fälschlicherweise seinem Mandanten und nicht dem Prozessgegner die Vorschusspflicht für einen Sachverständigen auferlegt hat.
Ist für den Prozessbevollmächtigten offenkundig, dass das Gericht die tatsächlich erfolgte Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses nicht beachtet und trotz unbedingter Klage von einem bloßen PKH-Gesuch ausgeht, hat er dieses Missverständnis auszuräumen, um zwecks Einhaltung der Klagefrist die alsbaldig...