Rz. 268
Besondere anwaltliche Pflichten bestehen, wenn die in einem Rechtsstreit vertretene Partei ganz oder teilweise obsiegt hat, sodass sie aus einem rechtskräftigen oder für vorläufig vollstreckbar erklärten Endurteil (§ 704 Abs. 1 ZPO) die Zwangsvollstreckung betreiben kann.
(1) Einleitung und Betreibung
Rz. 269
Der mit der Prozessführung beauftragte Rechtsanwalt hat die von ihm vertretene Partei, die in einer Instanz ganz oder z.T. obsiegt hat, über die Möglichkeiten der Zwangsvollstreckung aufzuklären. Noch i.R.d. Prozessmandats hat der Rechtsanwalt darauf zu achten, dass nach Vorliegen eines zur Zwangsvollstreckung geeigneten Titels umgehend ein Antrag auf Festsetzung der erstattungsfähigen Kosten gestellt wird (§§ 103 bis 107 ZPO). Da gem. § 104 Abs. 1 Satz 2 ZPO die festgesetzten Kosten bereits vom Eingang des Festsetzungsantrags zu verzinsen sind, kann eine ohne Grund verzögerte Antragstellung zum Ausfall erheblicher Beträge führen.
Rz. 270
Ein Auftrag zur Durchführung der Zwangsvollstreckung erstreckt sich auf die Durchsetzung titulierter Ansprüche, die der Partei nach Recht und Gesetz zustehen. Daher verletzt ein Rechtsanwalt die ihm obliegenden Pflichten, wenn er die Vollstreckung aus einem rechtkräftigen Titel versäumt, und zwar grds. selbst dann, wenn der Titel mit der materiellen Rechtslage nicht übereinstimmt. Nur ausnahmsweise handelt der Rechtsanwalt nicht pflichtwidrig, sofern gegen die Vollstreckung der Einwand des § 826 BGB begründet ist. Dies setzt allerdings voraus, dass es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, wenn der Titelgläubiger seine formelle Rechtsposition unter Missachtung der materiellen Rechtslage zum Nachteil des Schuldners ausnutzt. Es reicht demgegenüber nicht aus, dass der Titel objektiv unrichtig ist und der daraus vollstreckende Gläubiger dies weiß. Vielmehr müssen Umstände hinzutreten, welche die Ausnutzung des Titels in hohem Maße unbillig und geradezu unerträglich erscheinen lassen.
Rz. 271
Der Rechtsanwalt ist gehalten, die Zwangsvollstreckung zügig zu betreiben, wenn der Mandant ihn entsprechend anweist. Er kann sich z.B. schadensersatzpflichtig machen, wenn er die Vollstreckung einer Unterhaltsforderung durch Pfändung von Arbeitseinkommen nicht betreibt, obwohl pfändbares Arbeitseinkommen des Schuldners vorliegt und der vollstreckbare Betrag im Pfändungsbeschluss hätte festgesetzt werden können. Wenn die Pfändung beweglichen Vermögens aus einem vorläufig vollstreckbaren Urteil in Betracht kommt, hat der Rechtsanwalt den Auftraggeber über die Möglichkeit zu beraten, gem. § 720a ZPO ohne Sicherheitsleistung eine Sicherungsvollstreckung zu betreiben. Ein Rechtsanwalt, der einen Gläubiger wegen der Vollstreckung aus einem vollstreckbaren Urteil berät, muss diesen über das Risiko mangelnder Insolvenzfestigkeit der Vollstreckung gem. § 88 InsO belehren, wenn er weiß, dass ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners gestellt ist oder in Kürze bevorsteht. Ist konkret ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners zu befürchten, ist auf die Anfechtbarkeit nach der InsO hinzuweisen (vgl. Rdn 278).
Eine unterlassene Zwangsvollstreckung ist allerdings nur dann pflichtwidrig, wenn pfändbares Vermögen vorhanden war und entweder bekannt war oder mit den Möglichkeiten, welche die ZPO bietet, ermittelt werden konnte. Anders als in den Fällen des Forderungsverlustes durch Verjährung oder Ablauf einer Ausschlussfrist geht es hier nach Ansicht des BGH nicht um einen durch die Pflichtverletzung adäquat verursachten Schaden, weshalb die Erleichterung der Darlegungs- und Beweislast des § 287 ZPO nicht gilt.
Wurden für den Mandanten gegen den Schuldner weitere Titel erwirkt, hat der Rechtsanwalt den Mandanten darauf hinzuweisen, dass aufgrund dieser Titel in eine bestehende und bereits gepfändete Forderung des Schuldners erneut vollstreckt werden sollte, wenn dadurch die hinzugekommenen titulierten Ansprüche zumindest teilweise realisiert werden können.
Rz. 272
Bei der Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil ist der Auftraggeber in jedem Fall auf das Risiko hinzuweisen, dass er gem. § 717 Abs. 2 ZPO verschuldensunabhängig dem Schuldner denjenigen Schaden zu ersetzen hat, der diesem durch die Vollstreckung des Urteils oder durch eine zur Abwendung der Vollstreckung gemachte Leistung entstanden ist, wenn das für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteil aufgehoben oder abgeändert wird. Bei einem ungewissen Ausgang des Rechtsmittelverfahrens kann es geboten sein, dem Mandanten von einer Vollstreckung eines vorläufig vollstreckbaren Titels abzuraten, jedenfalls wenn keine Gefahr besteht, später mit dem Titel auszufallen. Umgekehrt kann gerade die Vollstreckung aus einem vorläufigen Titel noch den Erwerb einer insolvenzfesten Sicherheit ...