Prof. Dr. Martin Henssler
Rz. 4
Der Schwerpunkt der Kritik betraf indes die Ausgestaltung des Kriterienkatalogs des § 611a Abs. 2 BGB-RefE-I. Ziel dieses Katalogs sollte es sein, durch eine Konkretisierung des Arbeitnehmerbegriffes für mehr Rechtssicherheit zu sorgen.
Als Vorbild diente offensichtlich ein bereits zwei Jahre zuvor von der SPD vorgestellter Gesetzesentwurf vom 19.2.2013 zur Bekämpfung des Missbrauchs von Werkverträgen. Er sah ebenfalls einen Katalog von sieben Kriterien vor, von denen sich einzelne im Referentenentwurf vom 16.11.2015 wiederfanden. Anders als in § 611a BGB RefE-I, in dem Katalog und Vermutungswirkung nach Abs. 3 selbstständig nebeneinanderstanden, wurde der in § 1 AÜG verortete Katalog des SPD-Entwurfes selbst mit einer Vermutungswirkung verbunden. Die Vermutungswirkung sollte nach diesem Vorschlag greifen, wenn im Streitfall eine Partei Indizien beweisen konnte, die das Vorliegen von mindestens drei der sieben Merkmale vermuten ließ (auch propagiert als "drei aus sieben"). Auf eine entsprechende Kombination von Vermutungswirkung und Indizien verzichtete zwar der Referentenentwurf vom November 2015. Er stellte aber (unter Abs. 2 S. 2 a)) missverständlich das für die Statusbeurteilung zentrale Kriterium der Weisungsbefugnis hinsichtlich Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung (Umkehrschluss zu § 84 Abs. 1 S. 2 HGB) in den gleichen Rang wie sechs untergeordnete, teilweise sogar sehr schwache Indizien (Abs. 2 S. 2 b) –h)). Während das Merkmal der Weisungsgebundenheit bei einem Arbeitsverhältnis stets erfüllt sein muss, kommt den anderen von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien lediglich eine bloße Indizfunktion zu.
Rz. 5
Selbst bei der Umschreibung des Kernmerkmals der Weisungsabhängigkeit blieb der Entwurf mit dem pauschalen Abstellen auf die Weisungsfreiheit hinsichtlich der "geschuldeten Leistung" ungenau. Gerade bei der rechtlich schwierig zu beurteilenden Tätigkeit der Mitarbeiter von Werkunternehmern muss zwischen arbeitsbezogenen und werkbezogenen Weisungen unterschieden werden. Werkbezogene Weisungen sind für die arbeitsrechtliche Beurteilung ohne Aussagekraft. Vermissen ließ die Formulierung auch die notwendige Differenzierung nach der Eigenart der verrichteten Tätigkeit. So ist es bei Orchestermusikern und anderen Bühnendarstellern der Eigenart der Tätigkeit geschuldet, dass diese an bestimmte Vorstellungszeiten gebunden sind. Allein diese Bindung kann aber den Arbeitnehmerstatus nicht nach sich ziehen. Zeitliche Vorgaben und die Verpflichtung, bestimmte Termine für die Erledigung der übertragenen Aufgaben einzuhalten, sind kein hinreichendes Merkmal für ein Arbeitsverhältnis. Auch wenn nur ein geringer Spielraum in der zeitlichen Einteilung der übernommenen Dienstleistung besteht, spricht dies für sich genommen noch nicht für einen Arbeitsvertrag, wenn sich diese Einschränkung aus der Natur der Tätigkeit ergibt (z.B. Zeitungszusteller, Backwarenlieferant).
Im Kriterienkatalog wurden zudem zwei ganz unterschiedliche Themenkomplexe miteinander vermengt, nämlich zum einen die Frage, ob eine Person überhaupt Arbeitnehmer ist (Thematik der Abgrenzung des Arbeitnehmers vom Soloselbstständigen, siehe dazu § 4 Rdn 68 ff.) und zum anderen die davon zu trennende Frage, welchem Arbeitgeber eine Person, die unstreitig Arbeitnehmer ist, zuzuordnen ist (Abgrenzung der Personalgestellung aufgrund eines Werk- oder Dienstvertrages von der Arbeitnehmerüberlassung nach dem AÜG). Die für diese beiden Fragen maßgeblichen Kriterien sind nur teilweise deckungsgleich. Während die Kriterien des Abs. 2. S. 2 b) – f) lediglich Indizien für die Feststellung der Eingliederung enthielten, waren die Kriterien Abs. 2. S. 2 g) – h) für die Abgrenzung zwischen Arbeitsvertrag und selbstständigem Dienstvertrag ohne jede rechtliche Relevanz. Sie sollten offenbar der Grenzziehung zwischen Werkvertrag und Dienstvertrag dienen, betrafen damit die richtigerweise § 1 AÜG zuzuordnende Abgrenzung zwischen der Zeitarbeit und den sonstigen Formen des Fremdpersonaleinsatzes.
Die Vermengung der Lösungsansätze in einer Vorschrift hätte durch den Perspektivenwechsel innerhalb des Katalogs Missverständnisse geradezu provoziert. Davon unabhängig litt der Regelungsvorschlag darunter, dass er Kriterien, die ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen und von ganz unterschiedlichem Gewicht sind, undifferenziert in einen "Topf" warf (zur Gewichtung der Kriterien siehe § 3 Rdn 33 ff.).