Prof. Dr. Martin Henssler
I. Notwendigkeit einer typologischen Betrachtungsweise (auch in der digitalen Arbeitswelt)
Rz. 20
Anhand einer Gesamtwürdigung aller maßgebenden Umstände des Einzelfalls ist nach der gesetzlich bestätigten Rechtsprechung weiterhin zu ermitteln, welche Gestaltung tatsächlich gewollt und umgesetzt wird. Der objektive Geschäftsinhalt ist den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen und der praktischen Durchführung des Vertrags zu entnehmen (sog. typologische Betrachtungsweise). Das BAG ist bereits in den 1960ern davon ausgegangen, dass es für die Abgrenzung von Arbeitnehmern und freien Mitarbeitern keine allgemeingültigen Merkmale gibt. Daraus schloss es im Weiteren, dass es auch kein Einzelmerkmal gebe, welches aus der Vielzahl möglicher Merkmale unverzichtbar vorliegen muss, damit man von persönlicher Abhängigkeit sprechen kann. Insgesamt existiere kein einzelnes ausschlaggebendes Indiz für das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses, das sich nicht auch gelegentlich bei Selbstständigen findet.
Das BAG hat sich damit bereits früh zur Notwendigkeit einer typologischen Betrachtung bekannt. Aus Gründen der Praktikabilität und der Rechtssicherheit sei die Gesamtabwägung unvermeidlich. Vermutungswirkungen allein auf der Grundlage eines einzigen Indizes, wie sie § 4 Abs. 2 des österreichischen Arbeitskräfteüberlassungsgesetzes vorsieht, sind nach dieser überzeugenden Rechtsauffassung abzulehnen (dazu auch unter § 2 Rdn 2 ff.). Mit dem Bekenntnis zur Notwendigkeit einer Gesamtabwägung eng verbunden ist auch die Erkenntnis, dass der Grad der persönlichen Abhängigkeit von der Eigenart der Tätigkeit abhängt. Bei der Feststellung der Arbeitnehmereigenschaft kommt verschiedenen Indizien je nach Eigenart der Tätigkeit ein unterschiedliches Gewicht zu. So ist es bei Orchestermusikern und anderen Bühnendarstellern der Eigenart der Tätigkeit geschuldet, dass diese an bestimmte Vorstellungszeiten gebunden sind. Allein diese Bindung rechtfertigt es aber noch nicht, den Arbeitnehmerstatus zu bejahen. Zeitliche Vorgaben und die Verpflichtung, bestimmte Termine für die Erledigung der übertragenen Aufgaben einzuhalten, sind kein hinreichendes Merkmal eines Arbeitsverhältnisses. Auch wenn nur ein geringer Spielraum in der zeitlichen Einteilung der übernommenen Dienstleistung besteht, spricht dies für sich genommen noch nicht für einen Arbeitsvertrag, wenn sich diese Einschränkung aus der Natur der Tätigkeit ergibt (z.B. Zeitungszusteller, Backwarenlieferant).
Rz. 21
In einer sich durch die Digitalisierung stark wandelnden Arbeitswelt ist eine Gesamtbetrachtung und Abwägung der Umstände des Einzelfalles von höchster Bedeutung. Jegliche schematische Pauschalisierung, wie sie durch einen starren Kriterienkatalog erfolgen würde, verbietet sich. Die Digitalisierung und damit verbundene Entgrenzung von Arbeitsort und Arbeitszeit lassen die Abgrenzung zwischen Arbeitsvertrag und anderen Vertragsformen zunehmend schwieriger werden, so dass sachgerechte Ergebnisse nur durch eine typologische Gesamtbetrachtung des Einzelfalls erreicht werden können (zu neuen Formen der Erwerbstätigkeit § 4 Rdn 26). Teilweise wird die Tauglichkeit des Abgrenzungskriteriums der persönlichen Abhängigkeit zwar in Frage gestellt. Bisherige Alternativvorschläge bringen aber bisher keinen erkennbaren Mehrwert für eine rechtsicherere Handhabung mit sich, sondern versuchen stattdessen ohne sachliche Rechtfertigung die Grenzziehung durch Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffes zulasten der Unternehmen zu verschieben.
II. Vorrang der tatsächlichen Vertragspraxis vor der Vertragsgestaltung
Rz. 22
Ständiger, nunmehr durch § 611a Abs. 1 S. 6 BGB bestätigter Rechtsprechung entspricht es, dass der Bezeichnung des Vertrages nur eine indizielle Wirkung zukommt. Abzustellen ist auf die tatsächliche Durchführung, wobei bei einer Diskrepanz zwischen Vereinbarung und tatsächlicher Durchführung Letztere maßgebend ist. Das BAG begründet den Vorrang damit, dass sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen lassen, von welchen Rechten und Pflichten die Vertragspartner ausgegangen sind, was sie also wirklich gewollt haben. Dies bedeute aber nicht, dass die Bezeichnung der Vertragsform nun vollständig bedeutungslos wäre. Kann die vertraglich vereinbarte Tätigkeit typologisch sowohl in einem Arbeitsverhältnis als auch selbstständig erbracht werden, ist die Entscheidung der Vertragsparteien für einen bestimmten Vertragstypus im Rahmen der bei jed...