Rz. 480
Zitat
SGB VII § 108
Zum Umfang der Bindungswirkung und zur Pflicht des Zivilgerichts zur Aussetzung seines Verfahrens.
a) Der Fall
Rz. 481
Der Kläger begehrte Ersatz immateriellen Schadens wegen einer am 18.4.2006 erlittenen Nasenbeinfraktur. Der bei einer Spedition beschäftigte Kläger hielt sich auf dem Betriebsgelände der Beklagten auf. Er hatte den von ihm gefahrenen Lkw zum Beladen vor der Lagerhalle abgestellt. Als er mit einem Hubwagen Paletten auflud, stieß er im Bereich des mit einem Plastiklamellenvorhang verhängten Zugangs zur Lagerhalle mit einem von dem Mitarbeiter S. der Beklagten gesteuerten Gabelstapler zusammen.
Rz. 482
Der Kläger behauptete, er sei von S. aufgefordert worden, mit dem Beladen zu beginnen, weil dieser zunächst noch andere Fahrzeuge habe beladen müssen. Nachdem er zwei Paletten aus der Halle herausgefahren und auf den Lkw geladen habe, habe er wieder in die Halle gehen wollen. Dabei sei er von dem Gabelstapler angefahren worden. Aufgrund der erlittenen Verletzung sei er acht Tage lang arbeitsunfähig gewesen.
Rz. 483
Die Beklagte hat vorgetragen, S. sei mit einem Warnton rückwärts von innen an das Tor herangefahren, wobei der Kläger wohl von dem Vorhang getroffen worden sein müsse. Der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet, denn die Halle dürfe, wie ein dort befindliches Schild deutlich mache, durch das betreffende Tor zu Fuß nicht betreten werden.
Rz. 484
Das AG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, eine Haftung der Beklagten sei gemäß §§ 104, 106 Abs. 3 Alt. 3 SGB VII ausgeschlossen, weil sich der Unfall auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet habe. Das LG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision zugelassen, mit der der Kläger sein Klagebegehren weiterverfolgte.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 485
Das Berufungsgericht hatte offen gelassen, ob sich der Unfall auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet hat. Es meinte, eine Haftung der Beklagten sei jedenfalls nach § 104 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 S. 1 SGB VII ausgeschlossen, denn der Kläger sei wie ein Beschäftigter der Beklagten tätig geworden, weil die Ladetätigkeit allein deren Aufgabe gewesen sei. Ob dem Kläger dadurch möglicherweise Unfallversicherungsschutz bei zwei Berufsgenossenschaften gewährt werde, sei unerheblich, weil er vorliegend lediglich einen Anspruch auf Ersatz immateriellen Schadens geltend mache, den er gegenüber der Berufsgenossenschaft seines Stammbetriebs nicht erheben könne.
Rz. 486
Das angefochtene Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hatte die Tatbestandsvoraussetzungen des § 104 SGB VII unter Verstoß gegen die Bestimmung des § 108 SGB VII für gegeben erachtet.
Rz. 487
Nach dieser Vorschrift sind Gerichte außerhalb der Sozialgerichtsbarkeit bei Entscheidungen über die in den §§ 104 bis 107 SGB VII genannten Ansprüche hinsichtlich der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist, an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger und der Sozialgerichte gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich auch auf die Entscheidung darüber, ob ein Verletzter einen Unfall als Versicherter aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 oder Abs. 2 S. 1 SGB VII erlitten hat (Senatsurt. BGHZ 166, 42, 44). Diese Bindung hat das Zivilgericht von Amts wegen zu berücksichtigen (Senatsurt. v. 12.6.2007 – VI ZR 70/06, VersR 2007, 1131, 1132; Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 79 Rn 5). Sie setzt der eigenen Sachprüfung – auch des Revisionsgerichts – Grenzen (Senatsurt. BGHZ 158, 394, 397; v. 19.10.1993 – VI ZR 158/93, VersR 1993, 1540, 1541; v. 12.6.2007 – VI ZR 70/06, a.a.O. und v. 20.11.2007 – VI ZR 244/06, VersR 2008, 255, 256). Das Zivilgericht ist an die Entscheidung des Unfallversicherungsträgers bzw. des Sozialgerichts gebunden, und zwar unabhängig davon, ob es die von dem Sozialversicherungsträger getroffene Entscheidung inhaltlich für richtig hält (vgl. BAG, NZA 2007, 262, 265; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl., § 108 SGB VII Rn 6; ErfK-ArbR/Rolfs, 8. Aufl., § 108 SGB VII Rn 1). Da das Zivilgericht die Bindung von Amts wegen zu berücksichtigen hat, sind Feststellungen dazu, in welchem Umfang die Bindungswirkung eingetreten ist, zwingend erforderlich (vgl. Senatsurt. BGHZ 158, 394, 396 f.).
Rz. 488
Der Eintritt der Bindungswirkung nach § 108 Abs. 1 SGB VII setzt voraus, dass die Entscheidung für die Betroffenen unanfechtbar ist. Dies ist der Fall, wenn der Bescheid gemäß § 77 SGG bestandskräftig geworden oder das Sozialgerichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist (Senatsurt. v. 20.11.2007 – VI ZR 244/06, a.a.O.). Den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen ließ sich nicht entnehmen, ob im Streitfall eine Entscheidung eines Unfallversicherungsträgers mit Bindungswirkung für die Parteien ergangen ist. Die Bestandskraft wäre ge...