Rz. 543
BGH, Urt. v. 30.5.2017 – VI ZR 501/16, VersR 2017, 1014
Zitat
§§ 105 Abs. 1, 106 Abs. 3 Alt. 3, 108 Abs. 1 SGB VII
1. § 108 SGB VII räumt den Stellen, die für die Beurteilung sozialrechtlicher Fragen originär zuständig sind, hinsichtlich der Beurteilung bestimmter unfallversicherungs-rechtlicher Vorfragen den Vorrang vor den Zivilgerichten ein. Diesen Vorrang haben die Zivilgerichte von Amts wegen zu berücksichtigen; er setzt der eigenen Sachprüfung – auch des Revisionsgerichts – Grenzen.
2. Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen einer sozialversicherungsrechtlichen Haftungsprivilegierung in der Person des in Anspruch genommenen Schädigers aus der uneingeschränkten Prüfungskompetenz der Zivilgerichte unterliegenden Gründen zwar nicht erfüllt sind, sich aber die Frage stellt, ob seine Haftung in Hinblick auf die Privilegierung eines weiteren Schädigers nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses beschränkt ist.
1. Der Fall
Rz. 544
Die Klägerin nahm die Beklagte aus gemäß § 6 Abs. 1 EFZG übergegangenem Recht ihres Arbeitnehmers auf Ersatz des diesem infolge eines Unfalls entstandenen Erwerbsschadens in Anspruch.
Rz. 545
Die Klägerin betrieb ein Transportunternehmen. Sie wurde von der Beklagten, die ein Bedachungsunternehmen betreibt, damit beauftragt, Kies für die Befüllung zweier nebeneinander liegender Garagendächer auf einer Baustelle anzuliefern. Zu diesem Zweck fuhr der bei der Klägerin angestellte Kraftfahrer W. am 17.9.2013 mit einem Betonmischer mit Förderband zu der Baustelle. Die beiden Garagen standen in ca. 1 bis 1,5 m Abstand zueinander. Zwischen den Garagendächern hatten die Mitarbeiter der Beklagten eine Bockleiter aufgestellt. Zwei Mitarbeiter der Beklagten waren bereits auf das erste Dach gestiegen. Um den Kies auf die Garagendächer aufzubringen, musste auch der Arbeitnehmer der Klägerin, Herr W., auf das Garagendach steigen. Im Rahmen der Befüllung der Flachdächer war er dafür zuständig, den Kies mittels Fernbedienung auf die Dächer zu befördern; die Mitarbeiter der Beklagten sollten den Kies dann auf den Dächern verteilen. Nachdem das erste Garagendach befüllt war, stieg ein Mitarbeiter der Beklagten die Leiter hinunter, stellte diese an der nächsten Garage auf und stieg auf das andere Dach. Danach stieß er die Leiter zu den auf dem ersten Garagendach verbliebenen Arbeitern. Bei dem Versuch, von dem ersten Dach hinunterzusteigen, kam Herr W. an der zweiten Stufe von oben zu Fall und brach sich den linken Arm. Die Klägerin zahlte das Herrn W. zustehende Arbeitsentgelt gemäß § 3 EFZG fort.
Rz. 546
Die Klägerin machte geltend, die Leiter sei zusammengeklappt, als Herr W. herabgestiegen sei. Sie war der Auffassung, es sei Sache der Mitarbeiter der Beklagten gewesen, für die Sicherheit bei der Nutzung der verwendeten Leiter zu sorgen.
Das Amtsgericht hat die auf Zahlung eines Betrags in Höhe von 4.619,98 EUR gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit der vom Landgericht zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 547
Das angefochtene Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Entgegen der Auffassung der Revision war der Senat an einer Sachentscheidung allerdings nicht bereits deshalb gehindert, weil das Berufungsgericht die Berufungsanträge nicht wiedergegeben hat. Ohne die Wiedergabe der Anträge leidet das Berufungsurteil zwar regelmäßig an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führt (vgl. Senatsurteile vom 21.6.2016 – VI ZR 403/14, VersR 2016, 1194 Rn 7; v. 21.2.2017 – VI ZR 22/16, juris Rn 10, jeweils m.w.N.). Die ausdrückliche Wiedergabe der Anträge ist jedoch entbehrlich, wenn sich dem Gesamtzusammenhang der Gründe das Begehren des Berufungsführers noch mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lässt (BGH, Urt. v. 17.12.2013 – II ZR 21/12, WM 2014, 217 Rn 18 m.w.N.).
Rz. 548
Diese Voraussetzung war vorliegend erfüllt. Das Berufungsgericht hatte unter Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts ausgeführt, dass die Klägerin die Erstattung der von ihr geleisteten Lohnfortzahlung begehre, das Amtsgericht die Klage abgewiesen habe und die Berufung sich hiergegen richte. Diesen Ausführungen war hinreichend deutlich zu entnehmen, dass die Klägerin mit der Berufung ihr erstinstanzliches Klagebegehren uneingeschränkt weiterverfolgte. Dass das Berufungsgericht den als Nebenforderung geltend gemachten Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten nicht gesondert erwähnt hatte, war dabei unschädlich. Eines ausdrücklichen Hinweises auf die Nebenforderung hätte es nur dann bedurft, wenn die Klägerin sie fallengelassen oder ihren Antrag in sonstiger Weise geändert hätte.
Rz. 549
Das angefochtene Urteil unterlag aber deshalb der Aufhebung, weil das Berufungsgericht die Bestimmung des § 108 SGB VII nicht beachtet hatte. Es hatte die Tatbestandsvoraussetzungen der in § 106 Abs. 3 Alt. 3 i.V.m. § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII gerege...