Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 735
Bei Kindern im Schulalter müssen die Anforderungen an die Aufsichtspflicht mit zunehmendem Alter immer weiter gelockert werden. Es ist unausweichlich, dass die Situationen zunehmen, in denen sich die Kinder alleine bzw. in Begleitung anderer Kinder ohne die Aufsicht Erwachsener bewegen müssen und auch dürfen. Schon ab dem ersten Schultag müssen Schulkinder alleine zur Schule gehen dürfen, wenn sie ausreichend angeleitet und die Verkehrsverhältnisse nicht allzu gefährlich sind. Schulkinder müssen auch eigenständig spielen und Sport treiben dürfen. Ein fast siebenjähriges schulpflichtiges Kind muss Schlittenfahren dürfen, ohne dass die Eltern jederzeit eingreifen können, wenn das Gelände keine besonders hohe Geschwindigkeit des Schlittens zulässt.
Rz. 736
Den reduzierten Anforderungen an die Aufsichtspflicht in dieser Altersgruppe hat der BGH Rechnung getragen, indem er in demselben Fall der Beschädigung von Fahrzeugen durch spielende Kinder bei dem beteiligten 5 ½ Jahre alten Kind eine Kontrolle in regelmäßigen Abständen von höchstens 30 Minuten für erforderlich gehalten hat, zu dem 7 ½Jahre alten Spielkameraden aber ausgeführt hat, normal entwickelten Kindern dieses Alters sei im Allgemeinen das Spielen im Freien auch ohne Aufsicht gestattet, wenn die Eltern sich über das Tun und Treiben in großen Zügen einen Überblick verschafften. Mit Recht weist der BGH darauf hin, dass bei Kindern im Alter von sieben bis acht Jahren weder eine Überwachung "auf Schritt und Tritt" noch eine regelmäßige Kontrolle in kurzen Zeitabständen erforderlich ist. Ihnen muss, wenn sie normal entwickelt sind, das Spielen im Freien auch ohne Aufsicht in einem räumlichen Bereich gestattet sein, der den Eltern ein sofortiges Eingreifen nicht ermöglicht. Ist ein Kind nach seinen Fähigkeit grundsätzlich in der Lage, mit dem Fahrrad sicher zu fahren sowie den von ihm befahrenen Weg ohne Begleitung eines Erwachsenen zurückzulegen, und wurde es hinreichend über die Verkehrsregeln unterrichtet, liegt keine Verletzung der Aufsichtspflicht vor, wenn das Kind ohne unmittelbare Beaufsichtigung eigenverantwortlich am Straßenverkehr teilnimmt.
Rz. 737
Zum Spiel der Kinder gehört es auch, Neuland zu entdecken und zu "erobern"; andernfalls würde jede vernünftige Entwicklung des Kindes, insbesondere der Lernprozess im Umgang mit Gefahren, gehemmt. Viel mehr, als das Kind eindringlich zu belehren, dass man fremdes Eigentum achten muss, können die Eltern kaum tun und im Allgemeinen wissen Kinder der fraglichen Altersgruppe dies auch. Soweit Gefahren drohen, kann eine Überwachung und notfalls ein Eingreifen erforderlich sein. So müssen die Eltern eines elfjährigen Kindes wegen der von Softair-Pistolen ausgehenden Verletzungsgefahren überprüfen, ob ihr Kind beim Verlassen des Hauses solche mitnimmt. Eltern müssen ein sechs Jahre und acht Monate altes Kind eindringlich auf die Gefahren hinweisen, die beim Umgang mit Spielzeugpistolen insbesondere dann drohen, wenn anstelle der zugehörigen Pfeile mit Saugnäpfen Stöcke oder andere Gegenstände verwendet werden. Bei dem Spiel "Mikado" soll eine Verletzung der Aufsichtspflicht bei Kindern unter sieben Jahren nur zu verneinen sein, wenn der Aufsichtspflichtige nicht nur darauf hinweist, dass stets ein genügender Abstand zwischen den Gesichtern der Kinder und den im Gemenge liegenden Spielstäbchen einzuhalten ist, sondern wenn er auch die Einhaltung dieses Gebots ununterbrochen überwacht.
Rz. 738
Eltern dürfen einem schädigenden Verhalten ihrer Kinder auch nicht durch ihr Verhalten Vorschub leisten. Dies gilt insbesondere für das häufig zu erheblichen Schäden führende Spiel mit Feuer, das für viele Kinder faszinierend ist. Die Rechtsprechung bejaht deshalb eine Haftung der Eltern unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht, wenn sie nicht die Möglichkeit einer Besitzerlangung an Zündmitteln, etwa Streichhölzern oder Feuerzeugen, im häuslichen Bereich im Rahmen des Zumutbaren unterbinden oder jedenfalls erschweren. Eine tägliche Kontrolle auf den Besitz von Streichhölzern oder Feuerzeugen ist bei sieben bis acht Jahre alten Kindern ohne besonderen Anlass allerdings nicht zu verlangen. Die Aufklärung der Kinder über die Gefährlichkeit im Umgang mit Streichhölzern und ihre Überwachung wird als unzureichend angesehen, wenn Zündmittel nur unzulänglich verwahrt und damit dem Kind der leichte Zugriff darauf ermöglicht wird. Dem ist im Grundsatz zuzustimmen, doch sollte auch hier mit Augenmaß entschieden werden. Es erscheint überzogen zu verlangen, dass Zündmittel völlig unerreichbar aufbewahrt werden müssen; bei weniger sicherer Aufbewahrung sind der Phantasie vieler Kinder, an die begehrten Zündmittel zu kommen, oft keine Grenze gesetzt. Solange es nur darum geht, ob der Feuerversicherer bzw. bei Personenschäden Sozialversicherungsträger oder der Haftpflichtversicherer der Eltern den Schaden endgültig zu tragen haben, ist es letztlich gleichg...