Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
a) Behördliche und gesetzliche Vorschriften, private Regelwerke
Rz. 280
Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht wird nicht allein durch gesetzliche Vorgaben bestimmt. Der zur Verkehrssicherung Verpflichtete hat vielmehr selbstständig zu prüfen, ob und welche Sicherungsmaßnahmen zur Vermeidung von Schädigungen notwendig sind; er hat die erforderlichen Maßnahmen eigenverantwortlich zu treffen, auch wenn gesetzliche oder andere Anordnungen, Unfallverhütungsvorschriften oder technische Regeln wie DIN-Normen seine Sorgfaltspflichten durch Bestimmungen über Sicherheitsmaßnahmen konkretisieren. Solche Bestimmungen enthalten im Allgemeinen keine abschließenden Verhaltensanforderungen gegenüber den Schutzgütern. Sie können aber regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang von Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden. Daher handelt es sich bei gesetzlichen und behördlichen Geboten und Verboten um einen Mindeststandard. Da der Verkehrssicherungspflichtige selbständig über die erforderlichen Schutzvorkehrungen befinden muss, befreit ihn eine behördliche Genehmigung in der Regel nicht davon, weitergehende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Ausnahmsweise begrenzen gesetzliche Regelungen Verkehrssicherungspflichten, wie § 14 Abs. 1 BWaldG oder § 60 BNatSchG.
Rz. 281
Unfallverhütungsvorschriften (vgl. § 15 SGB VII) und deren Durchführungsanweisungen konkretisieren in ihrem Anwendungsbereich die Sorgfaltspflichten. Sie enthalten zumeist aber keine abschließenden Verhaltensanforderungen, weshalb der Pflichtige die zur Gefahrenabwehr erforderlichen Maßnahmen eigenverantwortlich treffen muss. Zu beachten ist auch, dass die Unfallverhütungsvorschriften Arbeitsunfällen vorbeugen wollen; gegenüber anderen Verkehrskreisen kann der Umfang der Sorgfaltspflichten anders sein (vgl. Rdn 380 Besichtigung eines landwirtschaftlichen Betriebs).
Rz. 282
Die vom Deutschen Institut für Normung e.V. aufgestellten DIN-Normen spiegeln den Stand der für die betreffenden Kreise geltenden anerkannten Regeln der Technik wider. Deshalb sind sie zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zur Sicherheit Gebotenen in besonderer Weise geeignet. Ihre Einhaltung entlastet zwar nicht stets vom Vorwurf einer Verkehrssicherungspflichtverletzung, jedoch kann der Verschuldensvorwurf entfallen, wenn der Verkehrssicherungspflichtige die einschlägigen DIN Vorschriften einhält und auch sonst nicht erkennen konnte, dass weitergehende Sicherungsmaßnahmen erforderlich sind. Denkbar ist, dass die Normen einen höheren Standard fordern als der Verkehr erwartet. Wenden aber die betroffenen Fachkreise die einschlägigen DIN-Normen überwiegend an, entsteht hierdurch meist eine entsprechende Sicherheitserwartung. Werden die DIN-Vorschriften verschärft, kann dem Verkehrssicherungspflichtigen, wenn keine schwerwiegenden Gefahrenquellen betroffen sind, im Einzelfall eine Übergangsfrist zugebilligt werden.
Rz. 283
Dieselben Grundsätze gelten für die harmonisierten europäischen Normen (EN-Normen), die das Europäische Komitee für Normung (CEN) und das Europäische Komitee für elektrotechnische Normung (Cenelec) aufstellt. Die nationalen Normungsorganisationen – wie das Deutsche Institut für Normung e.V. – übernehmen die europäischen Normen. In Deutschland erhalten sie unter Beibehaltung der vom Europäischen Komitee vergebenen Nummer die Bezeichnung DIN EN. Einschlägige EN-Normen können über die Internetseite https://standards.cen.eu/dyn/www/f?p=CENWEB:105::RESET:::: (Stand: 5.4.2021) recherchiert werden.
Rz. 284
Ähnlich wie DIN- oder EN-Normen können auch Regelungen von privatrechtlichen Verbänden (z.B. von Sportverbänden) mittelbar Verkehrssicherungspflichten begründen (siehe dazu Rdn 447). Verbänden steht i.d.R. zwar keine Regelungsbefugnis gegenüber der Allgemeinheit zu. Werden die von ihnen geschaffenen Regelungen aber von ihren Mitgliedern – unter Umständen sogar von nicht organisierten Personen – weitgehend beachtet, kann dies eine entsprechende Sicherheitserwartung begründen, aus der Verkehrssicherungspflichten resultieren.