Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 1055
Nach allgemeinen Grundsätzen ist der Geschädigte bei einem Glätteunfall beweispflichtig dafür, dass die Schadensverursachung auf der Pflichtverletzung beruht. Er hat zu beweisen, dass nach der Witterungslage und den Straßenverhältnissen eine Streupflicht ausgelöst und dass eine angemessene Reaktionszeit überschritten war. Entlastende Umstände – wie beispielsweise die Zwecklosigkeit und Unzumutbarkeit von Streumaßnahmen – hat der Streupflichtige zu beweisen. Steht fest, dass sich der Unfall im räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich einer Streupflicht ereignet hat und die Streupflicht verletzt wurde, kommt dem Geschädigten ein Anscheinsbeweis zugute, dass der Unfall auf der Verletzung von Winterdienstpflichten beruht, auch wenn die Erfahrung lehrt, dass Glätteunfälle auch auf gestreuten Wegen nicht auszuschließen sind. Das entlastet den Geschädigten aber nicht von dem Nachweis, dass zum Zeitpunkt des Unfalls an der konkreten Örtlichkeit eine Streupflicht bestand. Deshalb kann auf einen Anscheinsbeweis nicht zurückgegriffen werden, wenn sich der Glätteunfall außerhalb des Zeitrahmens ereignet hat, in dem die Streupflicht bestand. Der Pflichtige muss zwar auch dann haften, wenn der Unfall erwiesenermaßen darauf beruht, dass er seine Streupflicht vor Ende der Streupflicht nicht erfüllt hat und es alsdann zu einem Unfall außerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht kommt; für die Anwendung des Anscheinsbeweises ist jedoch deshalb kein Raum, weil es infolge weiterer Niederschläge oder infolge einer Änderung der Bodentemperatur zu erneuter Glatteisbildung gekommen sein kann. Es fehlt also an der für die Anwendung des Anscheinsbeweises vorausgesetzten Typizität des Geschehensablaufs.
Rz. 1056
Bei Glätteunfällen von Kraftfahrzeugen ist im Rahmen des § 254 BGB die Betriebsgefahr haftungsmindernd zu berücksichtigen. Darüber hinaus wird häufig ein Mitverschulden des Fahrers anzunehmen sein, der sein Fahrverhalten erkennbar winterlichen Verhältnissen nicht anpasste. Auch Fußgänger und Radfahrer werden sich vielfach einem berechtigten Mitverschuldensvorwurf ausgesetzt sehen, weil die winterlichen Glättegefahren in der Regel erkennbar sind und deshalb von ihnen ein hohes Maß an Eigensorgfalt gefordert ist. Schon die Benutzung einer erkennbar glatten Verkehrsfläche kann ein Mitverschulden begründen, wenn es zumutbar oder sogar geboten war, von der Nutzung der Verkehrsfläche abzusehen, und kein zwingender Grund dafür vorlag, sie gerade im Unfallzeitpunkt zu benutzen. Hat der Verletzte aus Unachtsamkeit die Glätte nicht erkannt, begründet dies ebenfalls den Vorwurf eines erheblichen Mitverschuldens. Das Mitverschulden des Geschädigten kann bei besonderer Sorglosigkeit bis zum vollständigen Haftungsausschluss führen, ein vollständiger Haftungsausschluss soll jedoch ausgeschlossen sein, wenn eine Verletzung der Streu- und Räumpflicht feststeht und das Handeln des Geschädigten nicht von einer ganz besonderen, schlechthin unverständlichen Sorglosigkeit gekennzeichnet ist. Somit kann ein Haftungsausschluss in solchen Fällen anzunehmen sein, in denen der Geschädigte die sich aufdrängende Gefahr eines folgenreichen Sturzes erkennt und dennoch darauf vertraut, es "werde schon irgendwie gutgehen".