Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 166
Häufig beruft sich der Schädiger darauf, dass der Schaden ganz oder teilweise sowieso aufgrund anderer Ursachen als seiner Schädigungshandlung eingetreten wäre. Begrifflich stellt sich dann die Frage nach der sog. hypothetischen oder überholenden Kausalität. Dass der durch das haftungsbegründende Ereignis real bewirkte Schaden gleichzeitig oder später durch einen anderen Umstand (die "Reserveursache") ebenfalls herbeigeführt worden wäre, kann selbstverständlich an der Kausalität der realen Ursache nichts ändern. Im Schadensersatzrecht besteht deshalb heute Einigkeit darüber, dass es sich bei der hypothetischen Kausalität nicht um ein Problem der Kausalität, sondern um eine Frage der Schadenszurechnung handelt. Ob die Reserveursache beachtlich ist und zu einer Entlastung des Schädigers führt, ist eine Wertungsfrage, die für verschiedene Fallgruppen durchaus unterschiedlich beantwortet wird.
Rz. 167
Dass unabhängig von der schädigenden Handlung der dem Geschädigten entstandene Schaden ohnehin eingetreten wäre, kann auf unterschiedlichen Umständen beruhen. Ein klassisches Beispiel ist das vom Schädiger zerstörte Haus, das kurze Zeit später durch ein Erdbeben oder einen Hangabrutsch zerstört worden wäre. Nicht nur Naturereignisse, sondern auch sonstige Umstände können geeignet sein, den Schadenserfolg auf andere Weise herbeizuführen (z.B. Großbrand oder Explosion in der Nachbarschaft; behördliche Abrissverfügung; unaufklärbarer Diebstahl der beschädigten Sache). Weiter können der verletzte oder getötete Mensch oder die beschädigte oder zerstörte Sache bereits schadensauslösend vorgeschädigt gewesen sein (Schadensanlage). Ein weites Feld nehmen Fälle ein, in denen behauptet wird, dass der Schaden auch entstanden wäre, wenn der Schädiger sich rechtmäßig verhalten hätte (rechtmäßiges Alternativverhalten), etwa im Bereich der Arzthaftung, bei rechtswidrigem behördlichen Handeln (z.B. Ablehnung einer Baugenehmigung, Verweigerung einer Beförderung, nicht bestandene Prüfung) und im geschäftlichen Bereich (z.B. der angelegte Betrag wäre schon konjunkturbedingt verloren gewesen).
Rz. 168
Das Reichsgericht hatte den grundsätzlichen Standpunkt vertreten, bei der Ermittlung eines Schadens sei nicht zu berücksichtigen, dass nach Entstehung des Schadens ein neues Ereignis eingetreten sei. Der BGH hat sodann entschieden, dass dann, wenn der Verlust laufender Einkünfte auf eine unerlaubte Handlung zurückgeführt wird, sich der Geschädigte entgegenhalten lassen muss, dass er die Einkünfte auch ohne das schädigende Ereignis später mit Gewissheit verloren hätte, wobei insoweit bei der Schadensermittlung die Berücksichtigung eines sog. hypothetischen Ursachenzusammenhangs jedenfalls dann geboten ist, wenn dieser an Umstände anknüpft, die schon zur Zeit des schädigenden Ereignisses in der Person des Geschädigten selbst lagen. Zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung wird auf die Vorauflage (Kap. 2 Rn 107 ff.) verwiesen. Heute ist in der Rechtsprechung im Prinzip anerkannt, dass hypothetische Ursachen in geeigneten Fällen, in denen dies schadensersatzrechtlich angemessen erscheint, berücksichtigt werden können, wobei sich die Rechtsprechung aber mit grundsätzlichen Aussagen zurückhält und kasuistisch entscheidet.
Rz. 169
Hypothetische Ereignisse, die zu einem späteren Zeitpunkt aus anderem Anlass eingetreten wären und die gleichen Kosten ausgelöst hätten, haben allerdings grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Auch dann, wenn ein grundsätzlich möglicher Anspruch gegen den für die Reserveursache Verantwortlichen nicht (mehr) durchgesetzt werden kann, ist die hypothetische Kausalität unbeachtet zu lassen.
Rz. 170
In Fällen, bei denen eine Schadensanlage besteht, geht es oft nicht um die Frage nach einer Reserveursache, sondern schlichtweg um das Problem einer zutreffenden Schadensberechnung unter Berücksichtigung einer Vorteilsausgleichung. Wenn etwa infolge Wurzelwuchses vom Nachbargrundstück eine etwa hundert Jahre alte und schon mehr als dreißig Jahre geneigte Mauer einstürzt, müssen bei der Schadensberechnung die Schadensanfälligkeit und der Wertzuwachs, der sich für den Eigentümer durch die Wiederherstellung in Form der Wiedererrichtung ergibt, angemessen berücksichtigt werden.
Rz. 171
Eine Reserveursache liegt dagegen etwa dann vor, wenn bei einem durch einen Verkehrsunfall Geschädigten eine vorhandene bislang beschwerdefreie Arthrose "aktiviert" wird, die dadurch verursachten Operationen erforderlich machenden Beschwerden aber auch ohne das Unfallgeschehen zeitnah eingetreten wären. In diesem Fall hat der Schädiger nur solche Schäden zu ersetzen, die infolge der vorzeitigen Verschlechterung der Arthrose eingetreten sind. Zu unterscheiden ist diese Fallgestaltung allerdings von einer solchen, in der unklar ist, ob die aufgetretenen Beschwerden überhaupt auf dem Unfallgeschehen beruhen oder ob sie unfallunabhängig, etwa aufgrund einer bereits vorhandenen Erkrankung, be...