Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
a) Überblick
Rz. 1226
Aus der haftungsbegründenden Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs ohne Beteiligung eines anderen folgt im Grundsatz die volle Haftung. Daraus ergibt sich bei Beteiligung mehrerer Kraftfahrzeuge unter gleichen Bedingungen die Eintrittspflicht der Halter nach Kopfteilen. Dies kommt nach den vorstehenden Erwägungen jedoch nur dann in Betracht, wenn keine sonstigen Faktoren vorliegen, aus denen sich ein unterschiedlicher Verursacherbeitrag ergibt. Die juristischen Ansatzpunkte solcher Faktoren ergeben sich aus den Verkehrspflichten und ihrer Gewichtung im Verhältnis zu den Pflichten des oder der anderen Beteiligten. Für die Abwägung der Verursacherbeiträge kann unter Berücksichtigung der beschriebenen beim Gesamtschuldnerausgleich zu beachtenden Besonderheiten auf die allgemeinen Grundsätze zurückgegriffen werden.
Rz. 1227
Gefahrträchtige Faktoren können auf rechtlich unterschiedlichen Gesichtspunkten beruhen. Im Vordergrund stehen die Sorgfaltsanforderungen der Verkehrsteilnehmer nach den Bestimmungen der StVO sowie StVZO und deren Missachtung. Nach dem Grad der Gefährlichkeit lässt sich folgende Unterscheidung treffen:
aa) Veränderung der Fahrtrichtung, Wechsel der Fahrspur
Rz. 1228
Zu Gefahrerhöhungen kann es kommen durch Richtungsänderungen im fließenden Verkehr oder sonstige Störungen und Behinderungen des Verkehrsflusses. Hierzu kommt es insbesondere beim Einfahren aus untergeordneten Verkehrsbereichen und beim Anfahren (§ 10 StVO), beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren (§ 9 StVO) und beim Fahrstreifenwechsel (§ 7 Abs. 5 StVO). An solche Verkehrsvorgänge werden schon nach den entsprechenden Vorschriften der StVO erhöhte Sorgfaltsanforderungen gestellt. Wird gegen diese Vorschriften verstoßen und liegen keine Besonderheiten vor, die gegen eine Typizität des Geschehens sprechen, spricht in der Regel der Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes, unfallursächliches Verhalten. Diesen hat der Verstoßende zu erschüttern. Der Verstoß kann – in Abhängigkeit von dem Verursacherbeitrag weiterer Unfallbeteiligter – zur vollen Haftung des vorschriftswidrig Handelnden führen. Werden hingegen gesteigerte Sorgfaltsanforderungen auf beiden Seiten verletzt, kann dies wiederum zur Quote von 1:1 führen. Liegt auf der einen Seite ein grober Verstoß gegen besondere gesetzlich auferlegte Verhaltensregeln vor, auf der anderen Seite dagegen nur ein einfacher Verkehrsverstoß und/oder ein minder gefährliches Verkehrsmanöver oder ist nur die ungesteigerte Betriebsgefahr zu berücksichtigen, kann dies zu einer Fülle von Abstufungen im Einzelfall führen, bis hin zum vollen Ausschluss der Mithaftung.
bb) Allgemeine Rücksichtnahme, Geschwindigkeit und Abstand
Rz. 1229
Gefahrerhöhend wirken auch Verstöße gegen die Sorgfaltsanforderungen im fließenden Verkehr, die der eigenen Reaktionsmöglichkeit auf das Verkehrsverhalten anderer dienen. Hierzu zählen insbesondere die allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme und zur Vermeidung von Gefährdungen § 1 StVO, die Einhaltung der Geschwindigkeitsregeln nach § 3 StVO, der Regeln über den verkehrsgerechten Abstand gem. § 4 StVO und die der Verständigung unter den Verkehrsteilnehmern dienenden Rechtsvorschriften.
cc) Technische Zuverlässigkeit des Fahrzeugs
Rz. 1230
Schließlich sind die Anforderungen an die technische Zuverlässigkeit des jeweils benutzten Kraftfahrzeuges zu beachten, die der Beherrschung von spezifischen Gefahren der Kraftfahrzeugbenutzung dienen. Dies betrifft die Funktionsweise der Bremsen, der Beleuchtungseinrichtungen, der Warneinrichtungen, ferner den ordnungsgemäßen Zustand der Reifen, die Sicherung der Ladung und die Vermeidung sonstiger Gefahren aufgrund bautechnischer Besonderheiten.
b) Spezielle Unfallkonstellationen
aa) Einfahren und Anfahren
Rz. 1231
§ 10 S. 1, 2 StVO erlegt demjenigen, der von einem außerhalb der Fahrbahn gelegenen Bereich in die Fahrbahn einfahren oder vom Rand der Fahrbahn anfahren will, auf, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dabei muss der Ein- bzw. Anfahrende sich erforderlichenfalls einweisen lassen, er muss seine Absicht, einzufahren oder anzufahren, rechtzeitig und deutlich ankündigen und dabei die Fahrtrichtungsanzeiger benutzen.
Rz. 1232
Bei einem Zusammenstoß spricht der Beweis ersten Anscheins für ein Verschulden des Einfahrenden, dessen gesteigerte Sorgfaltspflicht dazu führen kann, dass die Betriebsgefahr des sich im fließenden Verkehr Befindlichen zurücktritt. Für die Anwendung des Anscheinsbeweises ist hingegen kein Raum, wenn ein von einem Grundstück ausfahrendes Fahrzeug, dessen Fahrer über den zwischen Grundstück und Fahrbahn befindlichen Gehweg auf die Fahrbahn einfahren will, auf dem Gehweg mit einem Kraftfahrzeug zusammenstößt, dass diesen unberechtigt (§ 2 Abs. 1 S. 1 StVO) benutzt. Ist ein Verschulden des Einfahrenden festgestellt, kommt dessen Alleinhaftung in Betracht.
Rz. 1233
Ein Verstoß gegen die besonderen Sorgfaltsanforderungen beim Anfahren vom Fahrbahnrand wiegt so schwer, dass dahinter regelmäßig die ungesteigerte Betriebsgefahr eines Kraftfahrzeugs im fließenden Verkehr zurücktritt.