Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 208
Der Anscheinsbeweis ist ein Hilfsmittel der Praxis, das von der Rechtsprechung des Reichsgerichts seit 1888 angewendet und im Laufe der Zeit weiterentwickelt worden ist. Sinn und Zweck dieses Hilfsmittels ist vor allem, einem Geschädigten im Haftpflichtprozess den Nachweis der Kausalität und des Verschuldens des Schädigers zu erleichtern. Der Anscheinsbeweis ist zu unterscheiden vom Indizienbeweis. Dieser beinhaltet für sich genommen keine Erleichterungen an die im Rahmen von § 286 Abs. 1 ZPO zu stellenden Anforderungen, sondern gestattet lediglich eine Gesamtschau und Gesamtwürdigung mehrerer – evtl. für sich allein unergiebiger oder unscheinbarer – tatbestandsfremder Hilfstatsachen, also Indizien, die eine bestimmte Schlussfolgerung ermöglichen, wenn andere Schlüsse ernstlich nicht in Betracht kommen. Die einzelnen Hilfstatsachen müssen hier feststehen, also unstreitig oder bewiesen sein. Hingegen erlaubt der Anscheinsbeweis den Rückschluss auf die Kausalität eines schadensstiftenden Verhaltens oder auf ein Verschulden ohne konkretes Tatsachenfundament, also ohne das anspruchsbegründende Geschehen im Einzelnen zu kennen. Es handelt sich nicht um ein besonderes Beweismittel, sondern um den konsequenten Einsatz von Sätzen der allgemeinen Lebenserfahrung bei der Überzeugungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung gem. § 286 ZPO. Mithilfe der allgemeinen Lebenserfahrung können fehlende konkrete Indizien bei der Beweiswürdigung überbrückt werden. Die anzuwendenden Erfahrungssätze müssen deshalb geeignet sein, die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu begründen. Bestehen mehrere tatsächliche Möglichkeiten für ein Geschehen, genügt es nicht, dass die eine Möglichkeit wahrscheinlicher ist als die andere, um den Anscheinsbeweis anzuwenden.
Rz. 209
Der Anscheinsbeweis ist beschränkt auf sog. typische Geschehensabläufe und deshalb nur dann anwendbar, wenn sich bei Betrachtung aller unstreitigen und festgestellten Einzelumstände eines Geschehens ein Sachverhalt ergibt, der nach der Lebenserfahrung typischerweise auf einen Sorgfaltsverstoß hinweist. Ebenfalls ist in derartigen Fällen der Rückschluss von einer bestimmten Wirkung auf eine bestimmte Ursache und umgekehrt erlaubt.
Rz. 210
Für individuell geprägte Willensentschlüsse gibt es keinen Anscheinsbeweis. Diese Ansicht wird z.T. bekämpft. Der BGH hat immerhin Ausnahmen zugelassen. So wird ein Anscheinsbeweis insbesondere bejaht, wenn sich jemand an einen Rechtsanwalt oder Steuerberater gewendet und dieser ihn falsch beraten hat. Für den Schadensersatzanspruch stellt sich dann die Frage, wie der Mandant bei sachgerechter Aufklärung gehandelt hätte; hier wird der Anscheinsbeweis in der Regel angewendet werden können. Der gleiche Gedanke liegt folgender Entscheidung zugrunde: Ist ein Jagdpächter bei den Pachtverhandlungen nicht darüber informiert worden, dass auf dem Jagdgebiet mindestens 20 Windkraftanlagen geplant sind, spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass er bei Aufklärung darüber nicht gepachtet hätte.
Rz. 211
Ein Anscheinsbeweis für grob fahrlässiges Handeln kommt jedenfalls im Hinblick auf die subjektiven Elemente der groben Fahrlässigkeit nicht in Betracht. Doch können evtl. die tatsächlichen Grundlagen, die der Bewertung eines Verhaltens als grob fahrlässig zugrunde zu legen sind, aufgrund eines Anscheinsbeweises festgestellt werden.
Rz. 212
Der BGH hat die Grundsätze des Anscheinsbeweises für die Kausalität anlässlich eines Falles, in dem Schadensersatz für den Brand einer Scheune nach dem Hantieren mit einem Feuerzeug verlangt wurde, zutreffend wie folgt zusammengefasst: Der Beweis des ersten Anscheins greift bei typischen Geschehensabläufen ein, also in Fällen, in denen ein bestimmter Tatbestand nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache für den Eintritt eines bestimmten Erfolgs hinweist. Im Wege des Anscheinsbeweises kann gegebenenfalls von einem bestimmten eingetretenen Erfolg auf die Ursache geschlossen werden. Dieser Schluss setzt einen typischen Geschehensablauf voraus. Typizität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Kausalverlauf so häufig vorkommen muss, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist. In Fällen, in denen darum gestritten wird, ob ein an sich schadensträchtiges Verhalten einen entstandenen Schaden tatsächlich ausgelöst hat, soll der Anscheinsbeweis dem Geschädigten den Kausalitätsbeweis erleichtern. Steht das zur Herbeiführung des Schadens geeignete Verhalten des in Anspruch Genommenen fest und ist der entstandene Schaden eine typische Folge eines solchen Verhaltens, greift zunächst der Anscheinsbeweis und es ist Sache des in Anspruch Genommenen, den Anschein durch die Behauptung und den Beweis konkreter Tatsachen zu entkräften. Die Funktion dieser Beweiserleichterung ist es, den Anspruchsteller vom Vortrag konkreter – ihm zumeist unbekannter – Einzelheiten des Kau...