Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
I. Allgemeines
1. Entwicklung und Funktion der Verkehrssicherungspflichten
Rz. 267
Das Deliktsrecht knüpft die Schadensersatzpflicht nach dem Grundtatbestand des § 823 Abs. 1 BGB an eine schuldhafte Verletzung eines absoluten Rechts durch eine unerlaubte Handlung an. Schon nach den Motiven zum Bürgerlichen Gesetzbuch konnte eine unerlaubte Handlung sowohl in einem Tun als auch in einem Unterlassen bestehen. Das Reichsgericht hat die Haftung für Unterlassen mit zwei grundlegenden Entscheidungen anerkannt. Dabei hat es sich auf den Standpunkt gestellt, dass in Abkehr vom römischen Recht jeder für eine Beschädigung durch seine Sachen aufkommen solle, als er diese bei billiger Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen hätte verhüten müssen. Dies hat es für Schäden aufgrund mangelhafter Instandhaltung oder Nichtbeseitigung von Verkehrshindernissen in Erwägung gezogen. Heute sind die von der Rechtsprechung entwickelten Verkehrssicherungspflichten allgemein anerkannt, wenngleich ihre dogmatische Begründung umstritten ist und zu Einzelfragen unterschiedliche Auffassungen bestehen. In § 60 S. 2 BNatSchG, der die Begründung zusätzlicher Verkehrssicherungspflichten für das erlaubte Betreten der freien Landschaft ausschließt, setzt auch der Gesetzgeber Verkehrssicherungspflichten stillschweigend voraus.
Rz. 268
Die Verkehrssicherungspflichten begründen Verhaltenspflichten zur Gefahrenkontrolle eines Herrschafts-, Organisations- oder Sachbereichs. Sie sind Gefahrvermeidungs- und Gefahrabwehrpflichten. Sie verpflichten zum Handeln, weshalb ihre Hauptfunktion darin besteht, eine Haftung auch bei einem Unterlassen zu begründen, d.h. die in § 823 Abs. 1 BGB genannten Rechtsgüter gegen Verletzungen durch Unterlassen zu schützen. Es ist mitunter schwierig, das Unterlassen vom Tun abzugrenzen. Lässt ein Eigentümer auf seinem Grundstück eine Grube ausheben, sichert er diese nicht ordentlich und kommt es zu einer Verletzung, so macht es keinen Unterschied, ob man das Schwergewicht auf das Ausheben der Grube (Tun) oder die mangelnde Sicherung (Unterlassen) legt. Stellt man auf das Tun ab, handelt es sich allerdings um eine mittelbare Verletzung. Deswegen kommt den Verkehrssicherungspflichten die weitere Funktion zu, die Haftung bei mittelbaren Verletzungen zu begründen, aber auch zu beschränken. Die Gemeinsamkeit von mittelbarer Verletzung durch Tun und einer unmittelbaren Verletzung durch Unterlassen besteht darin, dass der letzte den Schaden verursachende Beitrag nicht von dem Täter stammt, sondern von dem Geschädigten selbst, von Dritten oder Naturgewalten. Zur Verdeutlichung: Lässt jemand ungesichert Waffen herumliegen, haftet er, wenn ein Kind diese an sich nimmt und sich dabei verletzt. Ob man auf das Tun (Liegenlassen der Waffe) oder das Unterlassen (von Sicherungsmaßnahmen) abstellt, es geht um die Vermeidung bzw. Abwehr von Gefahren; beim Tun in Form einer mittelbaren, beim Unterlassen einer unmittelbaren Rechtsgutverletzung.
2. Dogmatische Einordnung
Rz. 269
Die dogmatische Einordnung der Verkehrssicherungspflichten ist umstritten. Eine in der Literatur vertretene Ansicht qualifiziert die Verkehrssicherungspflichten als Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB, mit der Folge, dass fahrlässig verursachte Vermögensschäden nach § 823 BGB zu ersetzen wären. Die h.M. ordnet sie § 823 Abs. 1 BGB zu. Nach ihr sind die Verkehrssicherungspflichten Verhaltensprogramme, die durch die Schutzgüter des Absatzes 1 festgelegt sind. Dies gilt sowohl für kodifizierte Schutzgüter als auch für solche, die aufgrund richterlicher Rechtsfortbildung anerkannt sind, wie das Persönlic...