Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 510
§ 823 BGB
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.
I. Allgemeines (Bedeutung/Verhältnis zu Abs. 1/Funktionen/Schutzgesetzvoraussetzungen)
Rz. 511
Die Vorschrift des § 823 Abs. 2 BGB schafft eine besondere Schadensersatzpflicht für den Fall der Verletzung eines Schutzgesetzes. Diese Voraussetzung tritt an die Stelle der Verletzung eines der in § 823 Abs. 1 BGB aufgezählten Rechtsgüter; grundsätzlich kann daher nach Abs. 2 auch dann auf Schadensersatz gehaftet werden, wenn keines der besonderen Rechtsgüter verletzt, sondern nur überhaupt eine Vermögensbeschädigung eingetreten ist.
Rz. 512
So ist die wichtigste Funktion des § 823 Abs. 2 BGB, eine Anspruchsgrundlage für den Ersatz primärer Vermögensschäden zu gewährleisten, die nach Abs. 1 ausgeklammert sind. Dies ist etwa der Fall, wenn § 263 StGB als Schutzgesetz herangezogen wird, weil dem Schädiger Betrug vorgeworfen wird, wie etwa den Kfz-Herstellern im Dieselskandal wegen der Manipulation der Abgaswerte und Verschweigens der in die Kfz eingebauten Abschaltautomatik. Der BGH hat insoweit inzwischen zahlreiche Entscheidungen getroffen und greift als Anspruchsgrundlage maßgeblich auf § 826 BGB zurück.
Rz. 513
Die Anspruchsgrundlagen in Abs. 1 und in Abs. 2 des § 823 BGB konkurrieren miteinander (vgl. zur zivilrechtlichen Anspruchskonkurrenz § 12 Rdn 34 ff.). In zahlreichen Fällen sind die Voraussetzungen nicht nur des Abs. 2 i.V.m. einem Schutzgesetz, sondern daneben auch die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB erfüllt. § 823 Abs. 2 BGB enthält eine Erweiterung der Haftung gegenüber § 823 Abs. 1 BGB insbesondere auch deshalb, weil Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit sich nur auf die Verletzung des Schutzgesetzes beziehen müssen (dazu im Einzelnen weiter unten Rdn 542) und Beweiserleichterungen hinsichtlich Kausalität und Verschulden bestehen (unten Rdn 540 f.). Andererseits setzt die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB nicht nur allgemein den Verstoß gegen ein Schutzgesetz voraus; vielmehr muss ein Rechtsgut verletzt sein, dessen Schutz das Schutzgesetz bezweckt. Es genügt somit nicht zu prüfen, ob der Verletzte subjektiv zum Kreis der durch das Gesetz geschützten Personen gehört (dazu unten Rdn 538 f.), sondern der eingetretene Schaden muss auch objektiv das geschützte Rechtsgut betreffen.
Rz. 514
Dabei ist es nicht erforderlich, dass die Bestimmungen unmittelbar dem Schutz des Interesses des Einzelnen zu dienen bestimmt sind, sondern es genügt, dass sie auch dieses Interesse schützen sollen, wenngleich sie in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Für die Annahme eines Schutzgesetzes genügt es nicht, dass die infrage stehende Norm nach ihrem Inhalt und Zweck die Belange eines anderen fördert. Es kommt darauf an, dass der Inhalt der Norm nach dem Willen des Gesetzgebers auch einem gezielten Individualschutz dient und gegen eine näher bestimmte Art der Schädigung gerichtet ist. Der zivilrechtliche Schutz ist auf das Rechtsgut beschränkt, dessen Sicherung die Vorschrift dienen soll, und zwar gegenüber der nach dieser Vorschrift abzuwehrenden Gefahr. Bei der Frage, ob ein Schutzgesetz, also eine Rechtsnorm vorliegt, die – sei es auch neben dem Schutz der Allgemeinheit – gerade dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines Rechtsguts oder eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen, kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes sowie darauf an, ob der Gesetzgeber bei Erlass dieses Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat; es genügt nicht, dass der Individualschutz durch Befolgen der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann, er muss im Aufgabenbereich der Norm liegen.
Rz. 515
Die Tatfolgen, für die Ersatz gewährt wird, müssen zu den Gefahren gehören, um derentwillen die Rechtsnorm erlassen wurde. Führt eine Firma Verputzarbeiten an einem Hause mangelhaft aus und stürzt demnächst der Verputz herab, ohne dass Personen zu Schaden kommen, so kann der Hauseigentümer wegen des Sachschadens nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 323 StGB Schadensersatz verlangen. Tatsächlich werden also auch durch § 823 Abs. 2 BGB wie im Falle des Abs. 1 häufig lediglich einzelne Rechtsgüter geschützt, nicht das Vermögen ganz allgemein, sondern in erster Linie die Körperintegrität bzw. das Leben. So ist insbesondere eine Baugenehmigung kein Schutzgesetz zugunsten der Vermögensinteressen des Bauunternehmers. E...