Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 117
Nach § 228 BGB handelt nicht widerrechtlich, wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht, wobei der Handelnde allerdings zum Schadensersatz verpflichtet ist, wenn er die Gefahr verschuldet hat (sog. defensiver Notstand). Darüber hinaus gilt gemäß § 904 BGB, dass der Eigentümer einer Sache nicht berechtigt ist, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehenden Schaden unverhältnismäßig groß ist, wobei der Eigentümer Ersatz des ihm entstehenden Schadens verlangen kann (sog. aggressiver Notstand). Nicht nur Eingriffe in fremdes Sacheigentum regeln die strafrechtlichen Vorschriften: § 34 StGB bestimmt, dass nicht rechtswidrig handelt, wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt, was jedoch nur gilt, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden (rechtfertigender – früher: übergesetzlicher – Notstand). Keinen Rechtfertigungsgrund, sondern einen Entschuldigungsgrund regelt § 35 StGB (Entschuldigender Notstand), der die Begehung einer rechtswidrigen Tat voraussetzt.
Rz. 118
Greift etwa der Brand eines Hauses auf ein anderes Grundstück über, kann der betroffene Nachbar Maßnahmen zur Abwehr, selbst unter Inkaufnahme der Beschädigung des Hauses, von dem der Brand ausgeht, treffen; es liegt also ein Anwendungsfall des § 228 BGB vor. Der Eigentümer einer Schafherde handelt nicht widerrechtlich, wenn er einen wertvollen Schäferhund erschießt, der auf seine Schafweide eingedrungen ist und der sich dort in eines der Schafe verbissen hat. Greift ein freilaufender Boxer (Rassehund und Spielgefährte eines geistig und körperlich behinderten Kindes) einen freilaufenden Dackel an und erleidet der Dackel mehrere Bisswunden, so sind Schläge des Besitzers des Dackels auf den Boxer zwecks Trennung der ineinander verbissenen Hunde durch § 228 BGB auch dann gerechtfertigt, wenn der Boxer dadurch später stirbt. Ein Briefträger, der bei der Postzustellung von Hunden angefallen und gebissen wird, darf sich mit einem Knüppel wehren, wenn die Hunde weder auf Kommandos des Hundehalters reagieren noch sonst zu beruhigen sind. Wer bei einem Flugzeugabsturz zwecks Erhöhung seiner Überlebenschancen eine Beinbewegung macht, die (weiteren) Schaden an dem Flugzeug verursacht, handelt nicht rechtswidrig.
Rz. 119
§ 904 BGB erlaubt es, ein geringerwertiges Rechtsgut zugunsten eines höherwertigen zu opfern. Vorausgesetzt ist eine Notstandlage, also eine gegenwärtige Gefahr für einen im Vergleich zum geopferten Gut unverhältnismäßig großen Schaden an anderen Rechtsgütern. Bricht z.B. nach einem Unfall ein Brand aus, so ist es gerechtfertigt, fremdes Wasser zum Löschen zu verwenden. Ebenso wie die Verteidigungshandlung bei der Notwehr gemäß § 227 BGB einen Verteidigungswillen und die Abwehr beim Verteidigungsnotstand gemäß § 228 BGB einen Abwehrwillen voraussetzen, erfordert auch die aggressive Notstandshandlung einen entsprechenden Einwirkungswillen. Aus diesem Grund liegt diese Art des Notstands bei Unfallereignissen häufig nicht vor. Muss etwa ein Motorradfahrer vor einem plötzlich und unerwartet seine Fahrbahn verkehrsordnungswidrig kreuzenden Pkw auf die Gegenfahrbahn ausweichen und streift er dort für ihn unabwendbar ein entgegenkommendes Fahrzeug, an dem er vorbeizukommen gehofft hatte, liegt keine gezielte Inanspruchnahme des entgegenkommenden Fahrzeugs für die beabsichtigte Rettungshandlung vor. Ebenso verhält es sich, wenn ein Kind unvorhersehbar auf die Fahrbahn läuft und ein Kraftfahrer sein Fahrzeug, um dem Kind auszuweichen, auf die Parallelspur lenkt, wo er mit einem Kraftfahrzeug zusammenstößt, das er zuvor nicht wahrgenommen hat.
Rz. 120
Diese Einschränkung des Tatbestands ist insbesondere auch deshalb wichtig, weil ein – verschuldensunabhängiger – Schadensersatzanspruch nach § 904 S. 2 BGB nur besteht, wenn die Voraussetzungen des § 904 S. 1 BGB vorliegen. Ersatzpflichtig nach § 904 S. 2 BGB ist nach zutreffender Ansicht nicht der Begünstigte, sondern der Einwirkende, bei weisungsgebundenen Maßnahmen auch der Auftraggeber. Deshalb haftet z.B. ein Wohnraummieter seinem Vermieter nicht auf Schadensersatz gemäß § 904 S. 2 BGB, wenn ein nicht in der Wohnung wohnender Angehöriger aus vom Mieter nicht zu vertretenden Gründen die Feuerwehr ruft und ...