Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 234
Es stellt keinen typischen Geschehensablauf dar, dass in Folge eines Verkehrsunfalls eine Hirnblutung entsteht. Dies gilt jedenfalls dann, wenn feststeht, dass es keine Anzeichen für den Anprall des Kopfes und dadurch hervorgerufene Schädelverletzungen gibt. Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil der Kläger Bluthochdruckpatient war.
Rz. 235
Verfolgt ein Taxifahrer zwei Fahrgäste, die sein Fahrzeug ohne zu bezahlen verlassen haben und überrollt er beim "Verfolgen" einen der beiden Fahrgäste aus Unachtsamkeit, als er einen Gehweg befährt, um sein Kfz auf einem Parkplatz abzustellen, spricht der Anschein des Verschuldens gegen ihn.
Rz. 236
Nach der Explosion eines Sportboots kommt ein Anscheinsbeweis dafür, dass ein baulicher Bestandteil des Boots objektiv mangelhaft war, nicht in Betracht, wenn Tatsachen festgestellt sind, nach welchen die ernsthafte Möglichkeit einer anderen Ursache für die Explosion des Boots besteht.
Rz. 237
Wenn behauptet wird, dass ein Unfall gestellt bzw. eine Unfallmanipulation der Beteiligten vorgenommen wurde (vgl. dazu schon § 1 Rdn 18 ff.), geht es in erster Linie darum, ausreichende Indizien für die Manipulation aufzuzeigen. Ob auch in diesem Zusammenhang ein Anscheinsbeweis bzw. eine entsprechende Anwendung der Grundsätze zum Anscheinsbeweis in Betracht kommt, wird nicht einheitlich beantwortet. Der BGH hat zunächst angenommen, ein Anscheinsbeweis für die betrügerische Vortäuschung eines Unfallgeschehens, die die Rechtswidrigkeit der Schädigung ausschlösse, werde nur in Ausnahmefällen denkbar sein. Später hat er ausgeführt, dieser Beweis scheitere zwar vielfach daran, dass bei einer Unfallmanipulation die Entkräftung eines solchen Anscheins von den Beteiligten gewissermaßen eingeplant sei. Er sei aber nicht völlig ausgeschlossen. Eine besonders typische Gestaltung des angeblichen Unfallgeschehens könne nämlich, vor allem wenn dem Kreis der Beteiligten die Praktiken des Unfallbetruges nicht fremd seien, dazu führen, dass es Sache des Klägers sei, den gegen ihn sprechenden Anschein einer Manipulation zu entkräften. In der Rechtsprechung der Instanzgerichte wird die Anwendung des Anscheinsbeweises teilweise bejaht, teilweise aber auch verneint. Richtig dürfte es nach bisher häufig vertretener Ansicht sein, bei Verdacht der Unfallmanipulation die dafür sprechenden Indizien zu sichten. Daraus kann sich die Überzeugung von der Unfallmanipulation ergeben, wenn sie ausreichend dicht sind, wobei eine Gesamtschau aller Tatsachen, insbesondere einer ungewöhnlichen Häufung von Beweisanzeichen ausschlaggebend ist. Der Anscheinsbeweis spielt keine besondere Rolle, da auch der Anschein regelmäßig nur aus einer Vielzahl von Indizien hergeleitet werden kann. Der BGH hat allerdings zum Thema der Beweiswürdigung in Fällen vermuteter Unfallmanipulation im Oktober 2019 eine Entscheidung getroffen, in der die beweisrechtlichen Maßstäbe ausführlich dargelegt werden. Danach ist in derartigen Fällen keine Absenkung des erforderlichen Beweismaßes der vollen Überzeugung (§ 286 ZPO) gestattet. Der Tatrichter darf sich in Fällen dieser Art nicht mit einer bloßen, wenn auch erheblichen Wahrscheinlichkeit begnügen. Von der Erlangung der persönlichen Gewissheit des Richters von der Wahrheit darf nicht abgesehen werden. Damit ist ein Teil der in der bisherigen Rechtsprechung vertretenen Ansichten obsolet. Der Beweis dafür, dass der Geschädigte mit der Verletzung seines Rechtsguts einverstanden gewesen ist oder diese sogar gewünscht hat, obliegt dabei grundsätzlich der beklagten Versicherung.
Rz. 238
Der Anscheinsbeweis hilft nicht, wenn festgestellt werden muss, ob ein Versicherungsnehmer einen Schadensfall in der Absicht, den Versicherer in Anspruch zu nehmen, vorsätzlich herbeigeführt hat. Überhaupt ist ein Anscheinsbeweis für direkten oder bedingten Vorsatz in der Regel abzulehnen, da allgemeine Erfahrungssätze betreffend individuelle innere Vorgänge nicht bestehen. Der Beweis, dass ein Schaden vorsätzlich verursacht wurde, um den Versicherer in Anspruch zu nehmen, kann allerdings aufgrund von Indizien geführt werden. Diese Problematik ist vielfach erörtert worden im Zusammenhang mit der Unfreiwilligkeitsvermutung in der privaten Unfallversicherung.
Rz. 239
Im Bereich der Arzthaftung findet der Anscheinsbeweis gelegentlich Anwendung. Wird einem Patienten, der zu keiner HIV-gefährdeten Risikogruppe gehört und auch durch die Art seiner Lebensführung keiner gesteigerten HIV-Infektionsgefahr ausgesetzt ist, Blut eines Spenders übertragen, der an AIDS erkrankt ist, und wird bei ihm und bei anderen Empfängern dieses Blutes später eine AIDS-Infektion festgestellt, so spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass er vor der Bluttransfusion noch nicht HIV-infiziert war und ihm das HIV erst mit der Transfusion übertragen wurde; erkrankt auch der Ehegatte des Blutempfängers an AIDS, so spricht ein Anscheinsbeweis auch dafür, dass dieser von dem Blutempfäng...