Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 597
Die Billigkeitshaftung des § 829 BGB stellt eine Ausnahme vom Verschuldensprinzip dar. Unter bestimmten Umständen erscheint es angemessen, dem Geschädigten, der wegen fehlender Verantwortlichkeit des Schädigers an sich keinen Ersatzanspruch hat (§§ 827, 828 BGB), dann, wenn der Ersatz des Schadens nicht von einem aufsichtspflichtigen Dritten erlangt werden kann, doch Ersatz zukommen zu lassen. Die Rechtsprechung wendet die Vorschrift restriktiv an.
Mit dem Begriff der Billigkeit haben sich die Vereinigten Großen Senaten des Bundesgerichtshofs auf eine – seltsam anmutende – Vorlage des 2. Strafsenats in einem an ihn gelangten Adhäsionsverfahren eingehend befasst. Die großen Senate kommen zu dem wenig erstaunlichen Ergebnis, dass bei der Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld nach § 253 Abs. 2 BGB (§ 847 BGB a.F.) alle Umstände des Falls berücksichtigt werden können, wobei die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers und des Geschädigten dabei nicht von vornherein ausgeschlossen werden können.
Rz. 598
Die Billigkeitshaftung setzt einen Sachverhalt voraus, bei dem der Täter wegen einer unerlaubten Handlung der in den §§ 823–826 BGB gekennzeichneten Art schadensersatzpflichtig wäre, wenn es bei ihm nicht aufgrund der §§ 827, 828 BGB an der Schadensverantwortlichkeit fehlte. Stände jemand an seiner Stelle, der als erwachsener normaler Mensch für sein Tun voll verantwortlich ist, so müsste daher sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand einer jener unerlaubten Handlungen verwirklicht sein. Sofern der Haftungstatbestand subjektive Merkmale enthält (z.B. § 826, § 823 Abs. 2 i.V.m. § 263 StGB), müssen diese jedenfalls in Gestalt einer Parallelwertung eines "als-ob-Vorsatzes" oder eher "als-ob-Absicht" vorliegen. § 829 BGB sollte ungeachtet dogmatischer Bedenken nach Möglichkeit sämtliche Fallgestaltungen erfassen, bei denen die Verschuldenshaftung wegen fehlender Verantwortlichkeit ausscheidet. Deshalb greift die Billigkeitshaftung auch, wenn der gruppenspezifische Fahrlässigkeitsmaßstab (z.B. bei Kindern, älteren Menschen) nicht erreicht ist; dass insoweit Gesichtspunkte der Unzurechnungsfähigkeit und des Verschuldens vermengt werden, steht dem nicht entgegen. Auch wenn die Verschuldenshaftung daran scheitert, dass bereits ein "Handeln" im Sinne von § 823 BGB zu verneinen ist (siehe dazu Rdn 11 ff.), sollte die Anwendung des § 829 BGB in Betracht gezogen werden.
Rz. 599
§ 829 BGB gilt nach herrschender Meinung nicht für die Vertragshaftung. Streitig ist, ob die Vorschrift bei konkurrierender Vertragshaftung und deliktischer Haftung angewendet werden kann. Die Billigkeitshaftung aus § 829 BGB kann neben die Schadensersatzpflicht nach § 7 StVG treten. Diese Rechtsprechung zielte darauf ab, dem Geschädigten auch ein Schmerzensgeld zu gewähren, was früher nur bei der Deliktshaftung möglich war (§ 847 BGB a.F.). Insofern ist diese Rechtsprechung obsolet, weil seit dem 1.8.2002 auch im Rahmen der Gefährdungshaftung ein Schmerzensgeld gefordert werden kann (vgl. z.B. § 11 S. 2 StVG; auch die anderen Spezialgesetze gewähren seitdem für die Gefährdungshaftung ein Schmerzensgeld).
Rz. 600
Auf andere nicht vertragliche Haftungstatbestände kann § 829 BGB indes angewendet werden, auch wenn die Vorschrift selbst nur die §§ 823–826 BGB nennt. Auch die weiteren Abwandlungen des Grundtatbestands der unerlaubten Handlung können die Billigkeitshaftung begründen, z.B. §§ 831, 833, 836 BGB sowie §§ 834–838 BGB und §§ 844, 845.