Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 715
§ 832 Abs. 1 S. 1 BGB ist als Sondertatbestand einer Verkehrspflichtverletzung zu charakterisieren, enthält aber keine Gefährdungshaftung. Ratio legis der Norm ist einerseits die Erkenntnis, dass die aufsichtsbedürftige Person eine Gefahrenquelle darstellt und andererseits die Wertungsentscheidung, dass der Aufsichtspflichtige für deren weitgehende Beherrschung Sorge zu tragen hat, weil er eher als der Geschädigte in der Lage ist, auf die betreffende Person grundsätzlich und auch im Einzelfall einzuwirken. Die in der Vorauflage geäußerten Bedenken gegen die aus dem Gesetz folgende Vermutungswirkung werden hier nicht geteilt, zumal es die Aufsichtspflichtigen in der Hand haben, sich durch Abschluss einer Haftpflichtversicherung abzusichern. Allerdings ist ungeachtet der Vermutungswirkung Augenmaß gefragt. Der Richter hat zu berücksichtigen, dass den Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten ein gewisser Freiraum für vertretbare pädagogische Maßnahmen gelassen werden muss. Wenn Eltern, um den Kontakt zu dem Kind und ihre Einflussmöglichkeit nicht zu verlieren, keine allzu große Strenge walten zu lassen und nicht auf strikter Einhaltung elterlicher Weisungen oder Empfehlungen bestehen, kann dies im Rahmen einer sachgerechten oder zumindest vertretbaren Erziehung durchaus angebracht sein, zumal Maßnahmen, die voraussehbar erfolglos sein werden, kontraproduktiv sind.
Rz. 716
Der Wortlaut der Norm spiegelt die Tatbestandsvoraussetzungen nur unzureichend wider. Vorausgesetzt wird zunächst das Bestehen einer Aufsichtspflicht gegenüber einer aufsichtsbedürftigen Person und sodann ein einem Dritten widerrechtlich zugefügter Schaden, wobei der Aufsichtspflichtige nicht notwendig schuldhaft gehandelt, wohl aber durch die Schadenszufügung den objektiven Tatbestand einer unerlaubten Handlung erfüllt haben muss. Vermutet wird sodann eine Verletzung der Aufsichtspflicht sowie die Kausalität dieser Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden und ein Verschulden des Aufsichtspflichtigen; dem Aufsichtspflichtigen obliegt der Beweis, dass die Aufsichtspflicht gewahrt war oder dass trotz gehöriger Aufsicht der Schaden eingetreten wäre. Eine Erstreckung der Norm auf andere vermeintliche Aufsichtsverhältnisse ist abzulehnen. § 832 BGB gilt auch nicht für den Fall, dass der Aufsichtsbedürftige durch den Aufsichtspflichtigen geschädigt wird; insoweit bestehen Ersatzansprüche aufgrund der allgemeinen Vorschriften.
Rz. 717
Die Haftungsvoraussetzungen sind in § 832 BGB erschöpfend geregelt. Es handelt sich nicht um ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, so dass auf diesem Umweg weitergehende Ansprüche nicht begründet werden können. Der Aufsichtspflichtige kann allerdings nach den allgemeinen Vorschriften haften, wenn er durch eine eigene positive Handlung oder Unterlassung, die über die Verletzung der Aufsichtspflicht hinausgeht, zur Schadensverursachung beiträgt. Eine etwaige eigene Haftung des Aufsichtsbedürftigen nach § 823 BGB tritt gesamtschuldnerisch (§ 840 Abs. 1 BGB) neben die Haftung des Aufsichtspflichtigen, wobei nach § 840 Abs. 2 BGB im Innenverhältnis der Aufsichtsbedürftige allein verpflichtet ist.
Rz. 718
Minderjährige bedürfen bereits aufgrund der Minderjährigkeit grundsätzlich der Aufsicht. Volljährige sind grundsätzlich nicht mehr aufsichtsbedürftig, es sei denn, sie bedürfen aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung ausnahmsweise der Beaufsichtigung. Aufsichtspflichtig sind die Inhaber des Personensorgerechts. Das sind bei (ehelichen und nichtehelichen) Kindern die Eltern und zwar gemeinsam oder einzeln gemäß den §§ 1626, 1626a, 1671 ff. BGB. Für minderjährige Kinder, die unter Vormundschaft stehen oder für die ein Pfleger bestellt wurde, ist der Vormund (§§ 1793, 1794, 1800 BGB) bzw. der Pfleger (§§ 1909, 1915 BGB) aufsichtspflichtig. Entsprechendes gilt für Volljährige. Ist jemand als Betreuer im Sinne der §§ 1896 ff. BGB bestellt, ergibt sich allein daraus nicht, dass ihm die Aufsichtspflicht über den Betreuten obliegt; eine gesetzliche Aufsichtspflicht hinsichtlich eines Erwachsenen besteht nur dann, wenn dem Betreuer entweder die gesamte Personensorge oder speziell die Beaufsichtigung des Betreuten durch Gerichtsbeschluss übertragen worden ist. Die Anwendung des § 832 BGB entfällt, wenn etwa den Eltern das Sorgerecht entzogen worden ist und das Kind sich bei einer Pflegefamilie oder bei den Großeltern aufhält. Hält sich aber das Kind weiter im Haushalt der Eltern auf, so kann daraus auf eine vertragliche Übernahme der Aufsichtspflicht geschlossen werden.
Rz. 719
Die Haftung von Lehrern, Erziehern und sonstigen Aufsichtspersonen in öffentlichen Einrichtungen regelt sich nach § 839 BGB, Art. 34 GG. So werden etwa Erzieherinnen der in öffentlicher Trägerschaft stehenden Kindertagesstätte in Ausübung eines öffentlichen Amtes tätig. Beschädigen Kinder, die in einer Kindertagesstätte ...