Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 570
Hier sind Kinder unter bestimmten Umständen, nämlich dann, wenn Schäden bei Unfällen im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr – ohne Vorsatz – verursacht werden, von der Verantwortung frei (§ 828 Abs. 2 BGB). Dies wird manchmal mit dem Argument kritisiert, dass nicht einzusehen sei, warum ein Kraftfahrzeughalter oder Fahrer, der sich ordnungsgemäß verhalten hat, dem deliktsunfähigen Kind auf Grund der §§ 7 ff. StVG in vollem Umfang haftet und keinen Ersatz der ihm entstandenen Schäden erhält. Dem ist entgegenzutreten. Die beschriebenen Nachteile der Halter und Fahrer bestanden schon bisher bei Kindern bis zur Vollendung des siebten Lebensjahrs. Die Neuregelung erweitert lediglich für einen bestimmten Bereich den Zeitraum der Deliktsunfähigkeit. Für die Haftung nach dem StVG besteht eine Pflichthaftpflichtversicherung. Schäden sind nur im Rahmen der Haftungshöchstbeträge zu ersetzen. Die Eigenschäden der Halter können jedenfalls in bestimmtem Umfang durch eine Kaskoversicherung abgedeckt werden. Zwar können durch einen von einem deliktsunfähigen Kind verursachten Unfall den Beteiligten Schäden, insbesondere Personenschäden entstehen, die nicht durch eine Versicherung abgedeckt sind. Insoweit unterscheidet sich der von einem deliktsunfähigen Kind verursachte Schaden aber nicht von den zahlreichen anderen Schäden, die an Kraftfahrzeugen oder durch deren Benutzung in Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos entstehen können, ohne dass eine fremde Verantwortlichkeit besteht.
Rz. 571
§ 828 Abs. 2 BGB gilt auf Grund des 2. Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften ab dem 1.8.2002. Damit wurde neueren Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie Rechnung getragen. Im Durchschnitt kam im Jahr 2018 alle 18 Minuten ein Kind im Alter von unter 15 Jahren im Straßenverkehr zu Schaden. Insgesamt waren es 29.213 Kinder, die im Jahr 2018 auf Deutschlands Straßen verunglückten (– 0,2 % gegenüber 2017). Davon starben 79 Kinder, 18 mehr als im Vorjahr. Langfristig betrachtet verlieren glücklicherweise immer weniger Kinder ihr Leben im Straßenverkehr. Wurden in den 1950er Jahren noch über 1.000 getötete Kinder pro Jahr gezählt, sank diese Zahl in den 1990er Jahren auf unter 500 und liegt 2018 bereits das neunte Mal unter 100 getöteten Kindern. Kinder befinden sich im motorisierten Verkehr durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation. Entwicklungsdefizite von Kindern wirken sich gerade in diesem Umfeld besonders gravierend aus. Demgegenüber weisen der nicht motorisierte Straßenverkehr und das allgemeine Umfeld von Kindern gewöhnlich keine vergleichbare Gefahrenlage auf.
Mit der Einführung der Ausnahmevorschrift in § 828 Abs. 2 BGB wollte der Gesetzgeber deshalb dem Umstand Rechnung tragen, dass Kinder regelmäßig frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres imstande sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Eine generelle Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit war nicht beabsichtigt. Die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit sollte auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzt werden, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. die Fähigkeit, Entfernungen und Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, regelmäßig zum Tragen kommen.
Rz. 572
Vor diesem Hintergrund nimmt der Bundesgerichtshof an, dass der Beginn der Deliktsfähigkeit ab Vollendung des zehnten Lebensjahrs nur dann gerechtfertigt ist, wenn sich in dem Unfallereignis die beschriebene typische Überforderungssituation des Kindes realisiert.
Rz. 573
Der Bundesgerichtshof hat seine anfangs etwas apodiktisch klingende Rechtsprechung konkretisiert und verfeinert. Von Anfang an hat er klargestellt, dass § 828 Abs. 2 BGB die Deliktsfähigkeit nicht nur im fließenden Verkehr einschränkt. Verkehrsgefahren, bei denen die typische Überforderungssituation von Kindern eine Rolle spielt, können sich auch im ruhenden Verkehr ergeben, etwa durch ein haltendes oder falsch oder verkehrsbehindernd parkendes Kraftfahrzeug. Das Anliegen der einschränkenden Auslegung des § 828 Abs. 2 BGB ist es, die Deliktsfähigkeit von Kindern bereits ab dem siebten Lebensjahr zu bejahen, wenn das Unfallereignis zwar im Verkehrsraum stattfindet, die typische Überforderungssituation sich aber nicht ausgewirkt haben kann. Dies ist häufig der Fall, wenn Kinder sich mit Sportgeräten (z.B. Skateboards) oder Fahrrädern im Verkehrsraum bewegen und durch körperliche bzw. sportliche nicht verkehrsspezifische Ungeschicklichkeit insbesondere stehende Kraftfahrzeuge beschädigen, vgl. etwa