Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 1083
Der öffentliche-rechtliche Aufopferungsanspruch hat sich gewohnheitsrechtlich gemäß dem in § 75 EinlALR (1794) enthaltenen Rechtsgrundsatz entwickelt, wonach der Staat gehalten ist, denjenigen zu entschädigen, der seine besonderen Rechte und Vorteile dem Wohl des Gemeinwesens aufzuopfern genötigt wird. Der Grundsatz, der in dieser Vorschrift seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat, hat über den Bereich der früheren altpreußischen Provinzen hinaus allgemeine Geltung erlangt. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts wurde der Ausgleich für Sonderopfer allerdings dahin eingeschränkt, dass er nur für Eingriffe des Staates in das Eigentum beziehungsweise vermögenswerte Rechte, nicht dagegen für Personenschäden wie Verletzungen der Gesundheit oder des Lebens in Betracht kommt. Dieser im Wesentlichen auf die preußische Kabinettsorder vom 4.12.1831 (Gesetzes-Sammlung für die königlich-preußischen Staaten, S. 255, 257) gestützten, den Rechtsgrundsatz des § 75 EinlALR begrenzenden Auffassung ist der Bundesgerichtshof im Lichte des Art. 1 GG sowie der Grundrechte nicht gefolgt. Zu entschädigen ist vielmehr auch ein Sonderopfer, das der Einzelne an immateriellen Rechtsgütern – Leib Leben, Freiheit und Ehre – zum Wohl der Allgemeinheit zu erbringen genötigt wird.
Rz. 1084
Das Erfordernis des "Eingriffs" ist als "Chiffre" für die Zurechnung eines Verletzungserfolges zu einem dafür verantwortlichen Urheber – der öffentlichen Hand – zu verstehen. Es geht also um eine wertende Betrachtung des Zurechnungszusammenhangs entsprechend dem Begriff der Unmittelbarkeit beim enteignungsgleichen Eingriff. Durch das staatliche Verhalten muss eine signifikante Erhöhung des Risikos für den Eintritt gerade auch der Sonderopferlage bewirkt worden sein, es darf sich im Verletzungserfolg nicht nur das allgemeine Lebensrisiko oder ein durch den Betroffenen selbst oder durch einen Dritten geschaffenes besonderes Risiko verwirklicht haben. Das Ergebnis der wertenden Betrachtung kann im Einzelfall diskussionswürdig sein. In diesem Zusammenhang ist auch auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle hinzuweisen. Das Oberlandesgericht hat einen Aufopferungsanspruch wegen versehentlicher Tötung eines Polizisten durch einen sich lösenden Schuss aus der Dienstwaffe versagt, weil es dem Geschädigten möglich und zumutbar war, der Gefahr aus dem Weg zu gehen, statt sich auf eine körperliche Auseinandersetzung (Rangelei) mit dem Beamten, aus dessen Waffe sich der tödliche Schuss gelöst hatte, einzulassen.
Rz. 1085
Der Anspruch aus Aufopferung ist auf Leistung eines angemessenen beziehungsweise billigen Ausgleichs für das dem Betroffenen hoheitlich auferlegte Sonderopfer gerichtet. Der Anspruch auf Entschädigung kann zwar im Einzelfall darin bestehen, dem Geschädigten vollen Schadensersatz zuzubilligen, aber die Kriterien der Angemessenheit und Billigkeit können auch Einschränkungen rechtfertigen, da der Aufopferungsanspruch, anders als grundsätzlich der Anspruch auf Schadensersatz, seiner Natur nach nicht auf restlosen Ausgleich gerichtet ist.
Rz. 1086
Mit Urteil vom 7.9.2017 hat der Bundesgerichtshof unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung die Grundsatzentscheidung getroffen, dass der allgemeine Aufopferungsanspruch nicht nur auf den Ersatz materieller Schäden begrenzt ist, sondern auch nicht vermögensrechtliche Nachteile auszugleichen hat, mithin auch ein Anspruch auf Schmerzensgeld besteht. Der Bundesgerichtshof verweist zur Begründung der Änderung seiner Rechtsprechung nicht nur auf das Gesetz zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19.7.2002, mit dem in § 253 Abs. 2 BGB ein allgemeiner Anspruch auf Schmerzensgeld eingeführt worden ist, der über die bereits nach alter Rechtslage erfasste außervertragliche Verschuldenshaftung hinaus auch die Gefährdungshaftung und die Vertragshaftung mit einbezieht. Damit habe der Gesetzgeber eine Grundentscheidung, auf die das frühere Urteil vom 13.2.1956 wesentlich gestützt gewesen sei, verlassen, weil nunmehr im Schadensersatzrecht allgemein bei Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung Schmerzensgeld verlangt werden könne. Der Bundesgerichtshof verweist weiter auf entsprechende Vorschriften im StHG sowie in verschiedenen Polizeigesetzen, die auch Regelungen zum Ersatz des immateriellen Schadens bei der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit oder einer Freiheitsentziehung gewähren. Diese Grundentscheidung des Bundesgerichtshofs steht nicht im Widerspruch zum Urteil des V. Zivilsenats vom 23.7.2010. Denn diese Entscheidung betraf nicht einen Aufopferungsanspruch, sondern einen Anspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Insoweit handelt es sich um eine aus dem Grundstückseigentum abgeleitete Forderung, die dem Interessenausgleich zwischen Nachbarn dient und auf dem Gedanken von Treu und Glauben im nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis beruht. Dieser Anspruch umfasst kein Sc...