Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 636
§ 830 Abs. 1 S. 1 BGB wird auch für Demonstrationsschäden (auch unerlaubte Handlungen bei Blockaden und Hausbesetzungen) angewendet. Für Schäden, welche durch die Demonstration veranlasst sind, haftet zunächst jeder, der selbst unmittelbare Schädigungshandlungen ausgeführt oder vorsätzlich gefördert hat. Für den einzelnen Teilnehmer muss ein Verhalten festgestellt werden können, das den rechtswidrigen Eingriff in das fremde Rechtsgut bewirkt oder unterstützt hat und das – gemäß den maßgeblichen strafrechtlichen Grundsätzen – von der Kenntnis der Tatumstände und dem auf die Rechtsgutverletzung gerichteten Willen getragen war.
Rz. 637
Bei friedlicher Demonstration scheidet die Haftung des schlichten Demonstranten aus. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG gestattet die (kollektive) Äußerung von Standpunkten im Meinungsstreit als Protestkundgebung, solange sie friedlich verläuft und nicht auf Eingriffe in geschützte Rechtsgüter Dritter abzielt. Eine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit für Exzesse anderer Demonstranten, die ohne Billigung der übrigen die Grenzen des Demonstrationsrechts überschreiten, besteht nicht.
Rz. 638
Bei einer räumlich und personell sowie von der Zielrichtung her begrenzten Aktion wie einer kleineren Demonstration, einer Blockade, Hausbesetzung oder Verlagsbesetzung ist die Feststellung der Beteiligung einzelner Teilnehmer an der schadensstiftenden Handlung mit Täter- oder Unterstützungswillen in der Regel einfacher als bei einer Großdemonstration. Wer an einer Großdemonstration teilnimmt, muss nämlich nicht ohne Weiteres damit rechnen, dass es zu Körperverletzungen und Sachbeschädigungen kommt, es sei denn, es liegen besondere Anhaltspunkte hierfür vor. Der gemeinsame Wille zur Besetzung eines Betriebsgeländes (Kernkraftwerk) umfasst nicht den gemeinsamen Tatentschluss für alle hierbei verursachten Körperverletzungen und Sachbeschädigungen. Die konkrete Billigung gewalttätiger Handlungen durch einfache Demonstranten wird im Allgemeinen erst durch die Solidarisierung mit anderen gewalttätigen Demonstranten oder Teilgruppen an Ort und Stelle deutlich.
Rz. 639
§ 830 Abs. 1 S. 2 BGB ist ferner in der Rechtsprechung angewendet worden für folgende Fälle:
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Einsturz eines Hauses, das aus fehlerhaften Holzteilen eines Unternehmers besteht und von einem anderen Unternehmer fehlerhaft zusammengebaut worden ist; |
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Schaden infolge eines Sturzes auf einem an der Grenze zweier Nachbargrundstücke verlaufenden verkehrsunsicheren Weg für die Haftung beider Grundstückseigentümer; |
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Schaden infolge eines Sturzes über eines von mehreren unsachgemäß verlegten Kabeln auf einer Kirmes; |
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Ansteckung von Tieren infolge eines Sammeltransports mit erkrankten Tieren mehrerer Viehhändler; |
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Gebäudeschäden für die Haftung von Bauunternehmer und Architekt; |
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Brandschaden durch Feuerwerkskörper für die an dem Feuerwerk aktiv beteiligten Personen; |
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Brandschaden durch mit Feuer spielende Kinder; |
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Inbrandsetzen eines Gebäudes durch Himmelslaternen; |
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Sturzschaden eines von einer Fußballmannschaft bedrängten Fußballschiedsrichters für die beteiligten Fußballer; |
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Provisionsschinderei bei Kapitalanlage: Haftung von Anlageberater und Broker; |
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sittenwidrige Schädigung bei Börsentermin- und Optionsgeschäften: Haftung des Vermittlers und des Brokers; |
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Vermittlung chancenloser Terminoptionsgeschäfte: Haftung des Vermittlers und des Brokers; |
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Arzthaftung, wenn der Patient bei einer von mehreren in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehenden Operationen durch einen Kunstfehler zu Schaden kam; |
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Haftung des Aufsichtspflichtigen (nach § 832 BGB), wenn der Aufsichtsbedürftige nur aus § 830 Abs. 1 S. 2 BGB in Anspruch genommen werden kann. |
Die in der Literatur im Anschluss an den sog. Lederspray-Fall vieldiskutierte Problematik, ob sich bei Mehrheitsentscheidungen in Gremien eine gesamtschuldnerische Haftung nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB (analog) ergibt, ist in der zivilrechtlichen ober- und höchstgerichtlichen Rechtsprechung noch nicht angekommen und bleibt ungelöst.