Rz. 726

Die Beantwortung der Frage, wann eine Aufsicht im Einzelfall ausgereicht hat, ist insbesondere bei der Aufsicht über Kinder in starkem Maß durch persönliche Einstellungen und Erfahrungen geprägt. Den nachfolgend dargestellten Entscheidungen lässt sich gleichwohl ein grobes Entscheidungsraster entnehmen.

1. Kleinkinder, Kinder jünger als sieben Jahre

 

Rz. 727

Kleinkinder bedürfen besonderer Aufsicht. Soweit sie sich im Straßenverkehr bewegen, sind die Maßstäbe älterer Entscheidungen mit Zurückhaltung anzuwenden. Einerseits hat sich das Verkehrsvolumen enorm gesteigert, andererseits gibt es zunehmend auch besonders geschützte Bereiche (z.B. Spielstraßen, Fußgängerzonen), in denen nicht das gleiche Maß an Aufsicht erforderlich ist wie etwa an einer Hauptverkehrsstraße. Auch heute ergibt sich häufig die Situation, dass Kraftfahrer sich im Hinblick auf das unberechenbare Verhalten von Kleinkindern zu gefährlichen Brems- oder Ausweichmanövern veranlasst sehen, auch wenn das Kind dann letztlich nicht in den Fahrweg geraten wäre; hier ist auch heute noch eine Haftung der Eltern möglich.[2178] Nicht nur Kraftfahrer, sondern auch andere, etwa Fußgänger, können zu Schaden kommen.[2179] Hier müssen die Gerichte mit Augenmaß agieren und abwägen, was einerseits den Eltern, andererseits den Betroffenen zugemutet werden kann und muss. Insbesondere muss akzeptiert werden, dass ältere Kinder im Vorschulalter den Weg zum Kindergarten bzw. zur Kindertagesstätte allein zurücklegen, wenn sie insoweit ausreichend mit den Verhaltensvorschriften im Straßenverkehr vertraut gemacht worden sind und der Weg nicht allzu gefährlich ist. Bei einem Kleinkind muss der Aufsichtspflichtige aber jedenfalls jederzeit die Möglichkeit haben, einen drohenden Schaden durch unbesonnenes kindliches Verhalten zu verhindern, das heißt, der Aufsichtspflichtige muss bei Kleinkindern umfassend sicherstellen, dass er stets die Möglichkeit hat, Gefahrensituationen in kürzester Zeit zu erkennen und sachgerecht einzugreifen.[2180]

 

Rz. 728

In einer geschlossenen Wohnung muss der Aufsichtspflichtige ein dreijähriges Kind nicht ständig beobachten. Auch ein Kind in diesem Alter muss sich alleine beschäftigen dürfen, damit Raum für die persönliche Entfaltung und Entwicklung besteht. Eine möglichst lückenlose Beaufsichtigung des Kindes ist zwar außerhalb der Wohnung erforderlich, nicht aber innerhalb eines gewohnten und räumlich abgeschlossenen Umfelds. Die Mutter eines dreijährigen Jungen, der in seinem Verhalten bisher keine Auffälligkeiten gezeigt hat, haftet daher nicht, wenn das Kind während des Spielens mit seinem zweijährigen Vetter in der Wohnung seiner Tante in Reich- und Sichtweite von Mutter und Tante den Vetter bei einem Toilettenbesuch begleitet und frei herumliegenden Schmuck der Tante in die Toilette wirft und hinunterspült.[2181] Selbstverständlich dürfen Eltern auch ein 3 ½Jahre altes Kind in Begleitung der fünfjährigen Schwester in einem Garten spielen lassen, der von der Straße durch einen Zaun abgeschlossen und vom Grundstück der Eltern aus gut übersehbar ist, wobei nicht immer zu vermeiden ist, dass das Kind, nach dem man noch fünf Minuten vorher geschaut hat, plötzlich den Garten verlässt und auf die Straße läuft.[2182]

 

Rz. 729

Auch außerhalb von Wohnung und Garten muss ein normal entwickeltes Kind nicht ständig an der Hand gehalten werden. Eltern müssen bei einem 2 ½Jahre alten Kind allerdings stets damit rechnen, dass es unvermittelt und ohne Grund auf die Straße läuft.[2183] Eine Aufsichtspflichtverletzung liegt auch vor, wenn eine Mutter ihren 2 ½Jahre alten Sohn in einem Taxi abschnallt und dort zurücklässt, um um das Taxi herumzugehen und ihn herauszuholen, der Sohn aber dann die Taxitür öffnet und es dadurch zur Kollision mit einer Straßenbahn kommt.[2184] Wenn Eltern ein vierjähriges Kind auf einer öffentlichen Straße spielen lassen, müssen sie für gehörige Aufsicht an Ort und Stelle Sorge tragen.[2185] Ein 3 ½Jahre alte Kind muss aber auch in einem Kaufhaus nicht permanent im Auge behalten werden; wenn der Vater gelegentlich ein paar Meter vor dem Kind geht, haftet er für den Sturz einer 79-Jährigen über das in sie hinein laufende Kind nicht.[2186] Wo Gefahren nahe liegen, ist allerdings auch bei einem vierjährigen Kind eine engere Aufsicht geboten.[2187]

 

Rz. 730

Bei einem gemeinsamen Spaziergang von Mutter, Großmutter und einem 4 ½Jahre alten Kind in einer Spielstraße stellt die Unterbrechung des Sichtkontaktes für einen Zeitraum von zwei bis fünf Minuten keine Aufsichtspflichtverletzung dar, wenn das Kind sich weder widersetzlich gezeigt noch vorher bereits die Neigung gezeigt hat, fremde Gegenstände zu beschädigen. Wirft das Kind Steine auf ein parkendes Auto und kritzelt es mit einem Stein auf der Motorhaube herum, kommt eine Haftung unter dem Gesichtspunkt der Aufsichtspflichtverletzung nicht in Betracht. Es ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei Spielstraßen um Bereiche handelt, in denen Kinder gerade die notwendige Freiheit und Fertigkeit, sich allein und s...

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