Rz. 425
Zweck der Regelungen über die verwaisten Werke (orphan works) ist es, diese als kulturelles Erbe einem breiteren Publikum durch digitale Plattformen zugänglich zu machen. § 61 UrhG soll die Richtlinie 2012/28/EU vom 25.10.2012 über bestimmte zulässige Formen der Nutzung verwaister Werke (Orphan-Works-Richtlinie) umsetzen. Allerdings ging die deutsche Umsetzung zunächst über diese Richtlinie insofern hinaus, als auch Regelungen über vergriffene Werke in §§ 52–52e VGG (§§ 13d und 13e UrhWahrnG a.F.) geschaffen wurden, die nicht Gegenstand der EU-Vorgaben sind.
Rz. 426
Maßgebliche Handlungen sind die Vervielfältigung (§ 16 UrhG) sowie die öffentliche Zugänglichmachung (§ 19a UrhG), die für gewisse privilegierte Einrichtungen, und zwar öffentliche Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Museen, Archive, Einrichtungen im Bereich des Bild- und Tonerbes sowie öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, bezogen auf deren Bestandsinhalte, zulässig sind (§ 61 Abs. 1 UrhG). Die Aufzählung ist abschließend und schließt somit Verlage aus, was insofern relevant ist, als § 137l UrhG ansonsten greifen würde, der auch für vor 1966 geschaffenen Werke das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung fiktiv einräumt. Zwar fallen kommerziell tätige Unternehmen nicht unter die Schrankenregelung, wohl aber ist eine Zusammenarbeit mit solchen Unternehmen, etwa zur Digitalisierung, möglich. Allerdings müssen Gemeinwohlaufgaben etwa im Rahmen einer (Private Public Partnership) erfüllt werden (§ 61 Abs. 5 S. 1 UrhG). Entgelte dürfen zwar erhoben werden, allerdings nur zur Kostendeckung (Abs. 5 S. 2).
Rz. 427
Erfasste Werke sind Schriftwerke und sonstige Schutzgegenstände, wie etwa Leistungsschutzrechte gem. §§ 70–72 UrhG (§ 61 Abs. 2 Nr. 1 UrhG), Filmwerke (Abs. 2 Nr. 2) und Tonträger (Abs. 2 Nr. 3). Diese müssen verwaist oder teilverwaist (§ 61 Abs. 3 UrhG) sein, was dann der Fall ist, wenn die oder einer von mehreren Rechtsinhabern trotz sorgfältiger Suche nicht festgestellt oder ausfindig gemacht werden können. Die Anforderungen an die sorgfältige Suche ergeben sich aus § 61a UrhG. Zudem müssen die Werke bereits veröffentlicht, was wohl als "Erscheinen" im Sinne des § 6 Abs. 2 UrhG zu verstehen ist, oder gesendet worden sein (Abs. 4). Alternativ kommen auch unveröffentlichte Bestandsinhalte in Betracht, wenn diese bereits mit Zustimmung des Rechtsinhabers ausgestellt oder verliehen wurden. Dabei ist nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu berücksichtigen, ob der Rechtsinhaber in diese Nutzung einwilligen würde (§ 61 Abs. 4 UrhG). Schließlich ist zu beachten, dass die Privilegierung nur für Bestandsinhalte gilt, die den Einrichtungen vor dem 29.10.2014 überlassen wurden (§ 137n UrhG).
Rz. 428
Die sorgfältige Suche in Datenbanken, deren Quellen im Anhang zu § 61a UrhG angegeben sind, ist die Voraussetzung für die Privilegierung verwaister Werke (§ 61a Abs. 1 UrhG). Mit der Durchführung dürfen auch Dritte beauftragt werden (Abs. 1 S. 4). Das können auf solchem Gebiet spezialisierte Unternehmen sein, aber auch Verwertungsgesellschaften, die dafür Geld verlangen dürfen, wobei diese aber von den privilegierten Einrichtungen überwacht werden müssen.
Rz. 429
Die sorgfältige Suche ist im Mitgliedstaat der Erstveröffentlichung (der EU) durchzuführen (Ort der Suche § 61a Abs. 1 S. 2 UrhG) (bei Erstveröffentlichung außerhalb der EU sind weder die Orphan-Works-Richtlinie, noch § 61 ff. UrhG einschlägig). Bei Filmwerken ist die Suche in dem Mitgliedstaat durchzuführen, in dem der Filmproduzent seine Hauptniederlassung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Abs. 2). Bei nicht erschienenen oder nicht gesendeten Werken ist der Ort (Sitz) der Einrichtung maßgeblich, die die Bestandsinhalte mit Einwilligung des Rechtsinhabers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat (Abs. 3).
Rz. 430
Hinsichtlich der sorgfältigen Suche gibt es Dokumentations- und Informationspflichten (§ 61a Abs. 4 UrhG). Bestimmte Informationen sind an das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) weiterzuleiten. Zu beachten ist dabei, dass dokumentiert wird, welche Quellen im Einzelnen kontaktiert wurden, was insbesondere bei Recherchen im Ausland von Bedeutung ist. Vom DPMA sind die Informationen dann unverzüglich an das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM mit Sitz in Alicante, Spanien) weiterzuleiten, wo eine zentrale Online-Datenbank eingerichtet ist. Sind Werke dort registriert, werden diese verwaisten Werke gegenseitig in der EU anerkannt (Abs. 5).
Rz. 431
Die Beendigung der Nutzung als verwaistes Werk erfolgt, nachdem der Rechtsinhaber eines Bestandsinhalts nachträglich festgestellt oder ausfindig gemacht wurde. Dann hat die Einrichtung die Nutzung unverzüglich zu unterlassen (§ 61b S. 1 UrhG). In solch einem Fall hat der Rechtsinhaber Anspruch auf Zahlung einer angemessenen Vergütung (S. 2). Bei der Berechnung soll der nicht kommerzielle Charakter der Nutzung berücksichtig werden.
Rz. 432
Schließlich regelt § 61c UrhG die Nutzung verwaister ...