aa) Klage
Rz. 311
Ein deutsches Gericht ist nicht gezwungen, ausländisches Recht durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu ermitteln, sondern hat einen weiten Ermessensspielraum bei der Weise der Kenntnisverschaffung über das ausländische Recht.
Rz. 312
Art. 85 VO (EG) 883/2004 beantwortet nicht die Frage, vor welchem Gericht geklagt werden kann. Die Klage am Unfallort ist möglich. Das angerufene Gericht hat "von Amts wegen" die einschlägigen Vorschriften des Rechts des Mitgliedstaats festzustellen und anzuwenden.
bb) Anwendbares Recht
Rz. 313
Bei Unfällen mit Auslandsbezug ist zunächst zu klären, welches materielle Recht einschlägig ist. Dies ergibt sich konkret aus den Regeln des Internationalen Privatrechts (Art. 40 EGBGB) und dem Recht der europäischen Union (insbesondere Art. 85 VO (EG) 883/2004). Die VO (EWG) 1408/71 trat zum 30.4.2010 außer Kraft und wurde nachgefolgt von der VO (EG) 883/2004.
Rz. 314
EG-Verordnungen sind unmittelbar anzuwendendes Recht und genießen Vorrang vor den entsprechenden nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Die Schlussformel der Verordnung erklärt die VO (EG) 883/2004 für jeden EU-Mitgliedsstaat "in allen ihren Teilen verbindlich"; die Verordnung "gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat".
cc) Zivilrecht, Schadenersatz
Rz. 315
Art. 4 VO (EG) 883/2004 gewährleistet die Gleichbehandlung aller Personen, für welche die Verordnung gilt. Das bedeutet auch die Sicherheit vor zivilrechtlicher Inanspruchnahme unabhängig von der Staatsangehörigkeit; der Hinweis auf den Wohnsitz des Klägers ist damit unvereinbar mit den Grundzügen der Verordnung. Den hohen Rang dieses Gleichbehandlungsgrundsatzes betonen die Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour v. 20.1.2022.
Rz. 316
Der zivilrechtliche Schadenersatzanspruch orientiert sich grundsätzlich am Tatortprinzip (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO [VO (EG) 864/2007]). Art. 85 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 soll nicht die Vorschriften ändern, nach denen sich bestimmt, ob und inwieweit die außervertragliche Haftung des schadensverursachenden Dritten eintritt. Die Haftung des Dritten (Anspruchsgrund) und der daraufhin geschuldete Schadenersatz (Anspruchsvolumen) unterliegt den materiellen Bestimmungen, die das von dem verpflichteten Träger oder von dem Geschädigten angerufene Gericht auch sonst anwendet, also grundsätzlich dem Recht desjenigen Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schaden entstanden ist.
Rz. 317
Es gilt zudem, Art. 40 EGBGB zu beach...