Rz. 1400
Rz. 1401
Einleitend ist Dr. Gerda Müller (VRiBGH, VI. Zivilsenat) (ADAC-Juristen-Congress am 25.10.2002 in Dortmund) zu zitieren:
Zitat
Kürzlich erkundigte sich ein Kollege aus einem Strafsenat bei mir quasi hinter vorgehaltener Hand, ob es den § 823 BGB noch gebe, und ich war froh, dies auf Anhieb bejahen zu können, ohne ihm sagen zu müssen, da muss ich erst einmal nachschauen.
Dieser Vorfall erscheint mir kennzeichnend für die derzeitige Geistesverfassung der meisten Juristen, nämlich
▪ |
sowohl die vorsichtige Erkundigung bei jemandem, der Bescheid wissen könnte, |
▪ |
als auch dessen Freude, wenn er tatsächlich Bescheid weiß, |
▪ |
und schließlich die gemeinsame Freude darüber, dass doch nicht alles geändert worden ist. |
Ja, wir sind – wie ich das in einer Zeitung las – weitgehend von Rechtskundigen zu Rechtsunkundigen geworden, und es drängt sich die Erinnerung an die Einführung des BGB auf, die mehrere Reichsgerichtsräte veranlasst haben soll, entnervt in den Ruhestand zu fliehen, um nicht das neue Recht und seine Anwendung erlernen zu müssen.“
Rz. 1402
Ähnlich formulierte im Jahre 1982 Prof. Willi Geiger (RiBVerfG):
Zitat
"In Anbetracht der Unmenge und der kaum noch durchschaubaren Kompliziertheit der Regelungen, die der Gesetzgeber, man ist versucht zu sagen, fabriziert hat und täglich fabriziert, wird der Bürger in seinen Erwartungen an das Gericht bescheidener werden müssen."
Rz. 1403
Änderungen im Umfang insbesondere des gesetzlichen Sozialversicherungsschutzes (vor allem Renten- und Krankenversicherungsschutzes, aber auch anderer Sozialleistungen), sind weder außergewöhnlich noch überraschend und führen daher nicht zur Anpassung eines vorbehaltlosen Abfindungsvergleiches. Hinzu kommt, dass die Sozialgesetze i.d.R. auch durch Härtefallregelungen dafür Sorge tragen, dass der Einzelne gegen unzumutbare Belastungen im Zusammenhang mit medizinischen Heilbehandlungsmaßnahmen geschützt ist (siehe z.B. §§ 61, 62 SGB V). Wenn ein Verletzter trotz dieser gesetzlichen Regelungen keinen Erstattungsanspruch gegenüber seiner Krankenkasse hat, liegt das regelmäßig daran, dass die Belastungen noch zumutbar sind.
Rz. 1404
Der BGH führt in seiner Entscheidung zum Wegfall von Blindengeld aus:
Zitat
In der Rechtsprechung ist die Frage, welche Auswirkungen eine Änderung des Umfangs von Sozialleistungen im Hinblick auf eine umfassende Abfindungsvereinbarung hat, bisher nicht einheitlich beantwortet worden.
Einerseits ist eine Störung der Geschäftsgrundlage bejaht worden, wenn die Vertragspartner eines Abfindungsvergleichs im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses die Frage des Ersatzes der unfallbedingten Heilbehandlungskosten für nicht regelungsbedürftig, weil durch Leistungen des Sozialversicherungsträgers abgedeckt halten, und später diese Kosten aufgrund einer Änderung des Sozialversicherungsrechts nur noch zu 90 % ersetzt werden; in diesem Fall sei der Abfindungsvergleich derart anzupassen, dass der Schädiger und seine Haftpflichtversicherung den Geschädigten von allen unfallbedingten Heilbehandlungskosten freistellen müssten, soweit sie aufgrund der Gesundheitsreform vom Sozialversicherungsträger nicht mehr bezahlt werden.
Andererseits ist eine Störung der Geschäftsgrundlage verneint worden, soweit der Geschädigte aufgrund des am 1.1.1989 in Kraft getretenen Gesundheitsreformgesetzes unfallbedingte Heilbehandlungskosten tragen musste, die von der Krankenkasse nicht mehr übernommen wurden. Ähnlich ist entschieden worden, dass eine umfassende Abfindungsvereinbarung sich im Zweifel auch auf Lohnfortzahlungsansprüche in unfallbedingten Krankheitsfällen erstreckt. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass im Fall einer umfassenden Abfindungserklärung der Wegfall des Landesblindengeldes nicht zu einer Störung der Geschäftsgrundlage führe, wird auch von anderen Gerichten vertreten. Auch in der Literatur wird angenommen, dass Änderungen in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Leistungsstrukturen, soweit sie nicht völlig überraschend sind, zum Risikokreis der Abfindungsverhandlungen gehören.
…
Das Berufungsgericht verkennt nicht, dass die Einschränkungen bei der Leistung der Landesblindenhilfe einen spürbaren Einkommensverlust des Klägers zur Folge haben. Es geht aber zutreffend davon aus, dass die Grenze zur Unzumutbarkeit nicht überschritten und eine Anpassung des Abfindungsvergleichs deshalb nicht angezeigt ist. Soweit die eingetretenen Veränderungen in den Risikobereich fallen, für den der Geschädigte sich als abgefunden erklärt hat, muss dieser grundsätzlich auch bei erheblichen Opfern, die sich später herausstellen, die Folgen tragen. “