Dr. iur. Nikolas Hölscher
Rz. 10
Im Ausgangspunkt ist festzustellen, dass Vorsorgevollmachten nicht gegen das sog. Abspaltungsverbot und den Grundsatz der Selbstorganschaft verstoßen. Die hierfür gegebenen Begründungen differieren zwar, führen jedoch allesamt zu den gleichen Ergebnissen. Im Einzelnen:
Rz. 11
Nach h.M. kann das Stimmrecht eines Gesellschafters nicht von einem Gesellschaftsanteil getrennt und isoliert auf einen Dritten übertragen werden. Hierfür hat sich der Begriff des Abspaltungsverbots herausgebildet, welches im Personen- und Kapitalgesellschaftsrecht gilt. Das Stimmrecht lässt sich also nicht von der Mitgliedschaft trennen; etwas anderes gilt für seine Ausübung. Diese ist grundsätzlich auch durch Bevollmächtigte möglich. Im Personengesellschaftsrecht ist zudem zu beachten, dass aufgrund des Grundsatzes der Selbstorganschaft die Bestellung von Nichtgesellschaftern zu Geschäftsführern grundsätzlich ausgeschlossen ist. Weder führt die Erteilung einer Vorsorgevollmacht zu einer Abspaltung noch wird durch sie ein Nichtgesellschafter zum Geschäftsführer bestellt. Beide Grundsätze sind bei einer Vorsorgevollmacht nicht tangiert.
Rz. 12
Einer unzulässigen Abspaltung steht nach h.M. die unwiderrufliche und zugleich verdrängende Stimmrechtsvollmacht gleich, weswegen hierin ein mittelbarer Verstoß gegen das Abspaltungsverbot liegen könnte. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angesprochene verdrängende Vollmacht beinhaltet einen Stimmrechtsverzicht des Vollmachtgebers. Nachdem Vorsorgevollmachten regelmäßig als widerrufliche und nicht verdrängende Vollmachten ausgestaltet werden, kollidieren diese auch nicht mittelbar mit dem Abspaltungsverbot.
Rz. 13
Vereinzelt wird vertreten, diese Begründung sei unzureichend und greife zu kurz (Wedemann). Ergänzend wird angeführt, dass Vorsorgevollmachten mit dem Eintritt der Geschäftsunfähigkeit faktisch unwiderruflich würden; denn ein Widerruf durch einen Kontrollbetreuer sei an hohe Hürden geknüpft. Weil nach Eintritt der Geschäftsunfähigkeit eine Ausübung des Stimmrechts durch den Vollmachtgeber ebenfalls nicht mehr möglich sei, müsse man Vorsorgevollmachten nach Eintritt der Geschäftsunfähigkeit den Charakter einer unwiderruflichen erteilten verdrängenden Vollmacht zuschreiben.
Rz. 14
Die überzeugende Begründung dafür, dass Vorsorgevollmachten nicht gegen das Abspaltungsverbot verstoßen, gebe jedoch ein Erst-Recht-Schluss aus dem Betreuungsrecht: Die Ausübung organisatorischer Mitgliedschaftsrechte durch einen Betreuer sei nämlich anerkannt, weil ansonsten geschäftsunfähige Gesellschafter rechtlos gestellt wären. Nachdem der Gesetzgeber Vorsorgevollmachten den Vorrang vor einer Betreuung einräume, müsse aufgrund der Anerkennung der Vertretung durch einen Betreuer erst recht eine Vertretung durch einen Vorsorgebevollmächtigten möglich sein.
Rz. 15
Die Tatsache, dass ein Widerruf einer Vorsorgevollmacht nach Eintreten der Geschäftsunfähigkeit an hohe Hürden geknüpft sein mag, macht die Vorsorgevollmacht noch nicht zu einer unwiderruflichen verdrängenden Vollmacht. Die Argumentation der h.M. überzeugt. Der von Wedemann vorgebrachte Erst-Recht-Schluss aus dem Betreuungsrecht liefert jedoch ein ergänzendes Argument für die Zulässigkeit von Vorsorgevollmachten im Gesellschaftsrecht.