Literatur zum rechtfertigenden Notstand: Krumm, DAR 2012, 606.
1. Dritte dürfen nicht gefährdet werden
Rz. 35
Erste Voraussetzung für die Berufung auf einen rechtfertigenden Notstand ist, dass durch die Geschwindigkeitsüberschreitung andere nicht unverhältnismäßig gefährdet werden (BayObLG NZV 1991, 81) und sie das geeignete Mittel zur Gefahrenabwehr ist bzw. die Gefahr nicht mit einfacheren Mitteln beseitigt werden kann (OLG Bamberg zfs 2014, 650).
Rz. 36
Praxistipp
Nach zutreffender Auffassung muss die Feststellung genügen, dass die Gefahr nicht auf einem anderen, die Allgemeinheit weniger gefährdenden Weg zu beseitigen (OLG Hamm NZV 1997, 186) und der Verstoß zur Gefahrenabwehr geeignet und notwendig war (OLG Bamberg DAR 2014, 394).
2. Arzt
Rz. 37
Die Geschwindigkeitsüberschreitung eines Arztes, der schnell Hilfe leisten muss, kann gerechtfertigt sein (OLG Düsseldorf VRS 30, 444; OLG Karlsruhe DAR 2005, 46).
3. Angehöriger der freiwilligen Feuerwehr
Rz. 38
Nach Auffassung des OLG Stuttgart (DAR 2002, 366; a.A. OLG Frankfurt NZV 1992, 334) soll sich ein Angehöriger der freiwilligen Feuerwehr nach Auslösung des Alarms bereits bei der Fahrt mit seinem Privat-Pkw zum Feuerwehrhaus auf die Sonderrechte des § 35 Abs. 1 StVO bzw. auf rechtfertigenden Notstand berufen können, so dass eine maßvolle Geschwindigkeitsüberschreitung entschuldigt sei, wenn Dritte nicht gefährdet würden. Zumindest billigt es ihm einen unvermeidbaren Verbotsirrtum zu, wenn er aufgrund entsprechender Schulungsmaßnahmen glaubte, Sonderrechte in Anspruch nehmen zu können (OLG Stuttgart NZV 2002, 410).
Rz. 39
Diese Grundsätze müssten in Notfällen gleichermaßen auch für Angehörige anderer Hilfsorganisationen gelten.
4. Gesundheitsgefahr
Rz. 40
Die Rechtfertigung von Verkehrsverstößen durch Hilfeleistung für einen Schwerkranken ist nicht grundsätzlich wegen der Möglichkeit einen ärztlichen Notdienst verständigen zu können ausgeschlossen, bzw. der Betroffene nicht generell darauf beschränkt, Notarzt oder Krankenwagen herbeizurufen (OLG Köln zfs 2005, 468; a.A. OLG Karlsruhe zfs 2005, 517, das dann aber wenigstens eine die Frage der Verhängung eines Fahrverbotes beeinflussende notstandsähnliche Situation annimmt).
Rz. 41
Auf rechtfertigenden Notstand kann sich deshalb u.U. auch ein Taxifahrer berufen, der eine hochschwangere Frau zur dringenden Behandlung ins Krankenhaus bringen muss (OLG Düsseldorf DAR 1995, 168; OLG Hamm zfs 1996, 77).
Rz. 42
Dagegen berechtigt der (angeblich) drohende Beginn einer Gallenkolik nicht zu einer erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung (OLG Düsseldorf DAR 1998, 25).
Die Sorge des Betroffenen um seine im Wagen mitfahrende schwangere Frau rechtfertigt für sich zwar eine Geschwindigkeitsüberschreitung ebenfalls nicht, der Handlungsunwert kann jedoch dadurch so gemildert sein, dass jedenfalls ein Fahrverbot nicht infrage kommt (OLG Karlsruhe DAR 2002, 229; zfs 2005, 517).
5. Dringendes Bedürfnis
Rz. 43
Es muss nicht bereits eine Gesundheitsgefahr drohen, vielmehr kann schon ein "dringendes Bedürfnis" in Verbindung mit der Menschenwürde eine Geschwindigkeitsüberschreitung rechtfertigen. Dies kann namentlich bei einem nicht auf andere Weise zu begegnendem Stuhl- oder Harndrang der Fall sein (OLG Zweibrücken zfs 1997, 196; OLG Düsseldorf DAR 2008, 156; OLG Koblenz zfs 2008, 229).
6. Gefahrenabwehr
Rz. 44
Ein zur Gefahrenabwehr begangener Verstoß kann gleichfalls gerechtfertigt sein, z.B. wenn der Betroffene einem Lkw-Fahrer nachfährt, um ihn auf das andere Verkehrsteilnehmer gefährdende Herabfallen seiner Ladung aufmerksam zu machen (OLG Köln NZV 1995, 119).
7. Sicherheitsabstand
Rz. 45
Eine auf der BAB begangene Geschwindigkeitsüberschreitung, mit der der Fahrer eine durch einen bis auf zwei Meter auffahrenden Lkw geschaffene Gefahrenlage abstellen will, kann selbst dann gerechtfertigt sein, wenn der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um mehr als 30 km/h überschreitet (OLG Naumburg DAR 1997, 30).
8. Urteilsausführungen
Rz. 46
Beruft sich der Betroffene auf einen Notstand, bedarf es auf jeden Fall im Urteil hierzu näherer Feststellungen (OLG Hamm zfs 1996, 77; 1996, 154; OLG Bamberg DAR 2014, 394).
Rz. 47
Achtung
Selbst wenn im Einzelfall der Verstoß nicht durch Notstand gerechtfertigt ist und die Schuld deshalb nicht gänzlich entfällt, wird ein solches Vorbringen i.d.R. Auswirkungen auf das Fahrverbot haben (z.B. OLG Frankfurt DAR 2002, 229; OLG Karlsruhe zfs 2005, 515). Dies wird auch für den Fall eines Putativnotstandes gelten müssen (OLG Braunschweig NZV 2001, 136).