1. Anspruch auf Überlassung der Beweismittel
Rz. 59
Sämtliche Beweismittel unterliegen dem Akteneinsichtsrecht der Verteidigung (OLG Naumburg DAR 2013, 37; KG DAR 2013, 211). Die Akten sollen dem Verteidiger gem. § 147 Abs. 5 StPO in seine Geschäftsräume übersandt werden, was jedoch nicht für die Beweisstücke selbst gilt (BGH bei Pfeiffer, NStZ 1991, 95). Die Behörde ist allerdings verpflichtet, dem Verteidiger auf Antrag hin (gegen Entsendung einer Leerkassette bzw. einer CD) die Aufnahmen kopiert zuzusenden (BayObLG NZV 1991, 123), was auch für sonstige Unterlagen gilt (LG Ellwangen DAR 2011, 421; OLG Saarbrücken StV 2019, 179; OLG Zweibrücken StV 2019, 437).
2. Lebensakte
Rz. 60
Nachdem nach dem neuen Mess- und Eichgesetz die Führung einer Lebensakte in § 31 MessEG gesetzlich vorgeschrieben ist (OLG Brandenburg, StRR 2016, 19) hat der Verteidiger einen Anspruch auf Übersendung der Lebensakte (LG Lübeck DAR 2011, 713; OLG Sachsen-Anhalt DAR 2016, 215), auch ohne dass dieser Messfehler behaupten müsste (OLG Jena, DAR 2016, 399). Fraglich ist, ob die Nichtführung einer Lebensakte zur Einstellung des Verfahrens zwingt (so AG Castrop-Rauxel DAR 2016, 597), zumindest muss das Gericht aber der Frage nachgehen, ob nach der letzten Eichung am Gerät Reparaturen vorgenommen worden sind (OLG Sachsen-Anhalt, DAR 2016, 215).
3. Bedienungsanleitung
Rz. 61
Da die Einhaltung der Bedienungsanleitung Voraussetzung für das Vorliegen eines standardisierten Verfahrens ist, hat der Verteidiger auch Anspruch auf Einsicht bzw. Übersendung der Bedienungsanleitung (KG DAR 2013, 711; OLG Naumburg DAR 2013, 37; OLG Karlsruhe zfs 2018, 471).
Achtung: Hohe Anforderung an die Verfahrensrüge
An die Verfahrensrüge, mit der die Versagung der Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung geltend gemacht wird, stellt die Rechtsprechung höchste Anforderungen (OLG Celle DAR 2013, 283; OLG Braunschweig zfs 2014, 473).
4. Mitteilung sonstiger verfahrensrelevanter Vorgänge
Rz. 62
Die für die Messung maßgeblichen Vorgänge sind aktenkundig zu machen bzw. auf Verlangen dem Verteidiger zur Kenntnis zu bringen. Deshalb hat er z.B. beim Einsatz von Privaten einen Anspruch auf Benennung der Personen, die beim Messvorgang oder dessen Auswertung beteiligt waren (AG Gießen zfs 2016, 232).
5. Unverschlüsselte Daten der zugrundeliegenden Messung
Rz. 63
Das Recht auf eine umfassende Verteidigung erfordert, quasi als Ausgleich für die bei standardisierten Messverfahren begrenzten Rechte des Betroffenen, ggf. Einsichtnahme in die kompletten Daten der Messung. Nur damit ist ein faires Verfahren gewährleistet.
Auf Antrag der Verteidigung hin müssen ihr deshalb die kompletten Daten der Messung übermittelt – und nicht nur in den Räumen der Verwaltungsbehörde (AG Dillenburg zfs 2019, 234) zur Verfügung gestellt – werden (OLG Oldenburg zfs 2017, 469; KG zfs 2018, 473; VGH Saarland DAR 2018, 557; KG, Beschl. v. 2.4.2019 – 3 Ws (B) 97/19; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.7.2019 – 1 Rb 10 Ss 219/19; LG Kaiserslautern VA 2019, 119; LG Konstanz VA 2019, 119).
6. Daten der gesamten Messbildreihe
Rz. 64
Auch hier gilt, dass eine umfassende Verteidigung nur möglich ist, wenn der Betroffene (oder zumindest der gerichtliche Sachverständige, LG Konstanz zfs 2019, 473) auch die Messbildreihe auf Fehler, die sich möglicherweise auch auf sein Verfahren auswirken können, überprüfen kann (VGH Saarland NJW 2019, 2456; LG Kaiserslautern zfs 2019, 471; OLG Karlsruhe DAR 2019, 582; LG Köln DAR 2019, 698).
7. Notwendige Aktenbestandteile
Rz. 65
Umstritten ist, ob der Betroffene einen Anspruch darauf hat, dass die vorgenannten Unterlagen zu den Akten genommen und so seinem Akteneinsichtsrecht unterworfen werden, siehe hierzu § 18 Rdn 5 ff.
Achtung: Rechtsbehelf gegen Versagung
Der Verteidiger muss auf jeden Fall bereits im Bußgeldverfahren die Herausgabe der Unterlagen beantragen. Gegen die Ablehnung steht ihm der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG zu. Umstritten ist allerdings, ob gegen die amtsgerichtliche Entscheidung eine Beschwerde zulässig ist, was die überwiegende Auffassung (LG Hanau zfs 2019, 231; LG Kaiserslautern VA 2019, 119; LG Köln DAR 2019, 698 oder auch Cierniak) anders als das LG Hannvover (zfs 2018, 653) bejaht.
Achtung: Ablehnung eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrages
Die Beweismittel werden regelmäßig bei der Bußgeldbehörde aufbewahrt, so dass sich der Verteidiger die von ihm benötigten Unterlagen bereits im Vorverfahren beschaffen muss. Ein im gerichtlichen Verfahren gestellter Antrag wird deshalb als unzulässig abgelehnt (OLG Zweibrücken zfs 2019, 412).
Dies stellt für sich keinen rügefähigen Sachverhalt dar. Dem Verteidiger bleibt dann nur der Hinweis auf seine vorausgegangenen erfolglosen Bemühungen, die Aussetzung des Verfahrens zu beantragen.
Gegen einen fehlerhaften Ablehnungsbeschluss kann er dann nach § 238 StPO revisionsrechtlich vorgehen (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 24.2.2016 – Ss 6/2016 [4/16 OWiG]).