Rz. 27
Einen in den letzten Jahren an Bedeutung zunehmenden Grenzfall in der Begutachtung stellt die Cannabismedikation dar. Hierbei befindet sich der Konsum als Medikament im Spannungsfeld zwischen (ärztlich verordneter und durch Krankheit notwendiger) regelmäßiger Einnahme und Fahreignung. In den Begutachtungsleitlinien steht hierzu:
Zitat
"Wer Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) nimmt oder von ihnen abhängig ist, ist nicht in der Lage, den gestellten Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden. Dies gilt nicht, wenn die Substanz aus der bestimmungsgemäßen Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels herrührt."
Allerdings wird im Zuge der Legalisierung von Cannabis seit der letzten Änderung der Fahrerlaubnisverordnung zum 1.4.2024 demjenigen, der regelmäßig Cannabis konsumiert, nicht automatisch die Fahreignung abgesprochen.
Zitat
Bei der Einnahme von Cannabis gilt die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann als nicht gegeben, wenn Missbrauch oder Abhängigkeit vorliegt. Hierbei wird "Missbrauch" angenommen, wenn "das Führen von Fahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Cannabiskonsum […] nicht hinreichend sicher getrennt werden" können.
Rz. 28
In einer Verlautbarung wird vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) diesbezüglich Folgendes klargestellt: "Im Falle der Einnahme von Medizinalcannabis aufgrund einer ärztlichen Verschreibung gilt […], dass ein ärztliches Gutachten oder ein medizinisch-psychologisches Gutachten nur dann angeordnet werden kann, wenn Anzeichen für eine missbräuchliche Einnahme (regelmäßiger übermäßiger Gebrauch) vorliegen, d.h. Anzeichen dafür vorliegen, dass Medizinalcannabis regelmäßig nicht gemäß den ärztlichen Anweisungen eingenommen wird, oder bei bestimmungsgemäßer Einnahme von Medizinalcannabis Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit unter dem zum Führen von Kraftfahrzeugen erforderlichen Maß bestehen." (vgl. § 18 Rdn 8).
Rz. 29
Praxistipp
Dies bedeutet, dass es sich bei einer ärztlich verordneten Cannabismedikation nicht um eine die Fahreignung ausschließende Einnahme von Cannabis handelt. Es muss also kein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet werden, solange keine Anzeichen für einen Missbrauch (d.h. regelmäßiger übermäßiger Gebrauch oder regelmäßige Einnahme entgegen der ärztlichen Anweisung) oder Anzeichen einer Beeinträchtigung der psychophysischen Leistungsfähigkeit vorliegen. Erst wenn solche Anzeichen des Missbrauchs oder der reduzierten Leistungsfähigkeit vorliegen, sind Zweifel an der Fahreignung begründet.
Rz. 30
Allerdings ist bei der Cannabismedikation nach wie vor zu beachten, dass eine Verschreibung durch den behandelnden Arzt vorliegen und die Einnahme bestimmungsgemäß erfolgen muss.
Rz. 31
Problematisch könnte es für einen Klienten mit Cannabismedikation dann werden, wenn durch die Einnahme des Medikaments seine psychophysische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Dies ist, wie bei einigen anderen Medikamenten auch, besonders bei Behandlungsbeginn oder Dosisänderungen der Fall (vgl. § 18 Rdn 24). Im Zweifelsfall hat die Fahrerlaubnisbehörde dann die Überprüfung der psychophysischen Leistungsfähigkeit anzuordnen, gegebenenfalls im Rahmen eines ärztlichen Gutachtens.
Rz. 32
Zusätzlich ist zu beachten, dass in einigen Fällen von Cannabismedikation die Grunderkrankung selbst bereits so ausgeprägt sein könnte, dass diese die Fahreignung infrage stellt. Auch in solchen Fällen wäre eine Überprüfung der Fahreignung durch ein ärztliches Gutachten angezeigt (vgl. § 18 Rdn 19 ff.).
Rz. 33
Nach Graw/Mußhoff können Patienten, die Betäubungsmittel oder auch Cannabis als Medikament einnehmen, in drei Gruppen eingeteilt werden:
▪ |
Krankheit und Medikation sind symptomlos, sodass keine Fahreignungsrelevanz besteht. |
▪ |
Die Krankheitssymptome sind trotz Medikation fahreignungsrelevant. |
▪ |
Die Wirkung der Medikation ist fahreignungsrelevant. |
Die Fahreignung der Patienten in den letzten beiden Gruppen ist "wohl grundsätzlich ausgeschlossen. Bei Zweifeln muss eine Prüfung des konkreten Einzelfalles erfolgen".