a) Gesamtabwägung
Rz. 55
Zur Absicht, den Vertragserben zu beeinträchtigen, muss der Missbrauch der Verfügungsfreiheit des Erblassers unter Lebenden hinzukommen. Ausschlaggebend ist, welche Gründe den Erblasser bewogen haben, wobei eine Gesamtabwägung zwischen den Interessen des Vertragserben einerseits und dem Nachteil des Erblassers, an den Vertrag bzw. an das gemeinschaftliche Testament gebunden zu sein andererseits, vorzunehmen ist.
b) Ausnahmetatbestände
aa) Lebzeitiges Eigeninteresse
Rz. 56
Ob ein lebzeitiges Eigeninteresse oder andere Gründe vorliegen, die eine den Vertragserben beeinträchtigende lebzeitige Verfügung des späteren Erblassers trotz seiner erbvertraglichen Bindung billigenswert und gerechtfertigt erscheinen lassen, hat der Tatrichter aus der Sicht eines objektiven Beobachters in Anbetracht der gegebenen Umstände zu beurteilen, und dabei sind die persönlichen Verhältnisse und Vorstellungen zu berücksichtigen. Ein lebzeitiges Eigeninteresse des Erblassers, das nicht zur Annahme eines Missbrauchs führt, ist bspw. dann zu bejahen, wenn der Erblasser mit der Schenkung seine Pflege oder Versorgung im Alter sichern wollte (zu Einzelfällen der Rechtsprechung siehe Rdn 59).
Im Einzelnen handelt es sich beim lebzeitigen Eigeninteresse in vielen Fällen um die Wahrnehmung einer sittlichen Verpflichtung des Erblassers, die sich aus besonderen Leistungen des Beschenkten gegenüber dem Erblasser ergibt.
Ein lebzeitiges Eigeninteresse fehlt dagegen, wenn die Verfügung allein darauf angelegt ist, dass ein anderer als der Vertrags- oder Schlusserbe wesentliche Vermögensteile nach dem Tod des Erblassers ohne angemessene in den Nachlass fließende Gegenleistung erhält. Insbesondere ist der spezifische Anwendungsbereich des § 2287 BGB dann gegeben, wenn der Erblasser ohne Änderung der bei Vertragsschluss bzw. Testamentserrichtung gegebenen Umstände allein wegen eines auf eine Korrektur der Verfügung von Todes wegen gerichteten Sinneswandels anstelle der bedachten Person einer anderen wesentliche Vermögenswerte zuwendet, nur weil diese andere Person ihm – jetzt – genehmer ist. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der Erblasser nachträglich meint, eine im Erbvertrag oder im gemeinschaftlichen Testament erwähnte Person zu gering bedacht zu haben, und dies durch eine Schenkung zugunsten dieser Person zu korrigieren sucht.
Die Feststellung eines lebzeitigen Eigeninteresses erfordert eine umfassende Abwägung der Interessen im Einzelfall. Es kann fehlen, wenn der Erblasser Zuwendungen erheblicher Vermögenswerte in erster Linie aufgrund eines auf Korrektur der Verfügung von Todes wegen gerichteten Sinneswandels vornimmt.
bb) Lebzeitiges Eigeninteresse in Bezug auf einen Teil eines Schenkungsgegenstands
Rz. 57
Ein lebzeitiges Eigeninteresse muss nicht zwingend für den gesamten Schenkungsgegenstand angenommen werden, es kann vielmehr auch lediglich einen Teil der Schenkung rechtfertigen und insoweit einen Missbrauch der lebzeitigen Verfügungsmacht ausschließen. Hierbei sind die Grundsätze der gemischten Schenkung entsprechend anzuwenden, wobei allerdings keine rein rechnerische Gegenüberstellung des Werts der erbrachten Leistungen mit dem Grundstückswert vorzunehmen ist. Vielmehr hat auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass Leistungen in Zukunft erfolgen sollen und der Erblasser sich ihm erbrachte oder zu erbringende Leistungen "etwas kosten lassen darf", eine umfassende Gesamtabwägung zu erfolgen.
cc) Entsprechende Anwendung von § 2330 BGB?
Rz. 58
Zu fragen ist, ob in den Fällen des § 2287 BGB eine Parallele zu § 2330 BGB gezogen und angenommen werden kann, ein Missbrauch sei dann zu verneinen, wenn die Schenkung einer sittlichen Pflicht entsprochen hat, zumal das Gesetz an verschiedenen Stellen Schenkungen, die einer sittlichen Pflicht entsprechen, bevorzugt behandelt: §§ 534, 814, 1375 Abs. 2 Nr. 1, 1425 Abs. 2, 2113 Abs. 2, 2205, 2207 BGB.
Als Orientierungshilfe wird die zu § 2330 BGB ergangene umfangreiche Rechtsprechung herangezogen werden können:
Anstandsschenkung: BGH NJW 1981, 111.
Schenkung aus sittlicher Pflicht: Die Schenkung muss geboten sein; ihr Unterlassen wäre dem Erblasser als Verletzung der für ihn bestehenden sittlichen Pflicht zur Last zu legen, BGH NJW 1984, 2939; BGHZ 88, 102.
Unter sittliche Pflicht können fallen:
▪ |
Übereignung des halben... |