Angelika Wimmer-Amend, Michael Merten
Rz. 76
Der Insolvenzverwalter kann einzelne Vermögensgegenstände und sogar ggf. den gesamten schuldnerischen Geschäftsbetrieb an den Schuldner freigeben. Die Freigabe von Vermögensgegenständen ist in der InsO nicht ausdrücklich geregelt. Die Zulässigkeit der Freigabeerklärung ist lediglich in § 32 Abs. 3 InsO erwähnt. Gibt der Insolvenzverwalter einen Massegegenstand frei, unterliegt dieser als sonstiges Vermögen des Schuldners dem Vollstreckungsverbot gem. § 89 Abs. 1 InsO. In Betracht kommt die Freigabe, wenn der Aufwand für eine Verwertung höher ist als der zu erwartende Masseerlös. U.U. muss die Freigabe sogar erklärt werden, wenn der Gegenstand nicht verwertbar ist und die Insolvenzmasse durch ihn lediglich belastet wird.
Wenn der Insolvenzschuldner als Einzelunternehmer während des Insolvenzverfahrens selbstständig wirtschaftlich tätig ist oder wird, hat der Insolvenzverwalter zu entscheiden, ob der Schuldner die Tätigkeit mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse ausübt, oder ob die selbstständige Tätigkeit aus dem Insolvenzverfahren freigegeben wird. Gem. § 35 Abs. 2 InsO hat der Insolvenzverwalter ein Wahlrecht, ob Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser selbstständigen Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden sollen. In der Praxis erfolgt meist die "Negativerklärung", sprich Freigabeerklärung gegenüber dem Schuldner, um eine haftungsträchtige Fortführung auf Rechnung und Risiko der Masse zu vermeiden. Die entsprechende Erklärung des Insolvenzverwalters gem. § 35 Abs. 2 InsO wirkt ex nunc mit Zugang beim Schuldner. Sie ist unwiderruflich, bedingungs- und vorbehaltsfeindlich.
Ab Freigabe können auf die selbstständige Tätigkeit bezogene vertragliche Ansprüche von Gläubigern, die nach dem Zugang der Erklärung beim Schuldner entstehen, nicht gegen die Masse verfolgt werden. Haftungsschuldner ist insoweit ausschließlich der Insolvenzschuldner und dies ausschließlich mit seinem insolvenzfreien Neuerwerb.
Mit dem Wirksamwerden der Freigabe wechselt auch die Arbeitgeberstellung, d.h. diese fällt auf den Insolvenzschuldner zurück. Ihm steht sodann (wieder) alleinig die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zu, die mit Insolvenzeröffnung gem. § 80 InsO auf den Insolvenzverwalter überging. Den Schuldner treffen daher wieder sämtliche Arbeitgeberpflichten.
Nach der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters obliegt es dem Schuldner gem. § 35 Abs. 2 i.V.m. § 295a Abs. 1 InsO, die Gläubiger durch Zahlungen an den Insolvenzverwalter/Treuhänder so zu stellen, wie wenn er ein seiner Ausbildung und seinen Erfahrungen angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre. In den ab 1.1.2021 beantragten Insolvenzverfahren stellt das Insolvenzgericht den abzuführenden Betrag auf Antrag des Schuldners fest, § 295a Abs. 2 InsO. Den weiterhin selbstständig tätigen Schuldner trifft die Abführungsobliegenheit bis zum Ablauf der Wohlverhaltensperiode. Die Zahlungen sind kalenderjährlich bis zum 31. Januar des Folgejahres zu leisten, § 295a Abs. 1 S. 2 InsO.
Nach älterer Rechtsprechung lebten mit der Freigabe vorinsolvenzliche Forderungsvorausabtretungen (z.B. abgetretene Ansprüche des Arztes gegen die Kassenärztliche Vereinigung) wieder auf, sodass nach der Freigabe entstandene Forderungen auch im laufenden Insolvenzverfahren von der Zession erfasst wurden. In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung vertritt der BGH seit neuestem die Auffassung, dass das Erwerbsverbot des § 91 InsO einen Übergang der vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirksam voraus abgetretenen Forderungen auf den Zessionar hindert. Die von der Freigabe erfassten Vermögensgegenstände – insbesondere der Neuerwerb – erhält der Schuldner nach geänderter Rechtsprechung durch den Insolvenzverwalter unmittelbar und unbelastet von den gem. § 91 Abs. 1 InsO unbeachtlichen Vorausverfügungen zurück. An den aus der Masse freigegebenen Vermögenswerten können daher während der Dauer des Insolvenzverfahrens wegen der bis zur Verfahrensbeendigung maßgeblichen Erwerbssperre des § 91 Abs. 1 InsO keine Rechte von Gläubigern auf der Grundlage vorinsolvenzlicher Verfügungen entstehen. Altzessionare sind daher darauf verwiesen, nach Freigabe der selbstständigen Tätigkeit eine neue Forderungsabtretung mit dem Schuldner zu vereinbaren, sofern sie Zugriff auf die Forderungen haben wollen, die der Schuldner zwischen der Freigabe und dem Abschluss des Insolvenzverfahrens erwirbt.