Rz. 16
Wenn aufgrund einer Patientenverfügung die Behandlungswünsche und Vorstellungen des Betroffenen bei dessen Einwilligungsunfähigkeit durchgesetzt werden sollen, muss diese unmittelbare Bindungswirkung haben. Unmittelbare Bindungswirkung heißt, dass der Patientenverfügung konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch nicht akut bevorstehende ärztliche Maßnahmen entnommen werden können müssen und dass aus ihr heraus erkennbar sein muss, in welcher konkreten Situation sie Geltung haben soll.
1. Bindungswirkung
Rz. 17
Dass eine Patientenverfügung Bindungswirkung entfaltet, dürfte nach der Rechtsprechung des BGH in den letzten Jahren unbestritten sein, wenn diese die dort aufgestellten Anforderungen erfüllt. Zuvor wurde von Kritikern eine Bindungswirkung verneint, mit dem Argument, die Patientenverfügung werde oft in einer Lebensphase errichtet, in der der Verfasser noch nicht mit der akuten Entscheidungssituation konfrontiert sei und das Risiko bestehe, dass er seine Ansichten ändere, wenn er in die konkrete Behandlungssituation komme. Außerdem spreche gegen eine Bindungswirkung, dass die Patientenverfügung frei widerruflich sei. Der BGH hat allerdings klargestellt, dass eine Patientenverfügung als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts bindend wirkt, denn das Recht zur Selbstbe stimmung über den eigenen Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Dieses Selbstbestimmungsrecht gilt auch am Lebensende. Es schützt gerade in Grenzsituationen des Lebens vor Fremdbestimmung.
2. Konkrete Entscheidungen über ärztliche Maßnahmen in einer konkreten Behandlungssituation
Rz. 18
Bereits in seinem Beschl. v. 17.9.2014 hat der BGH es als maßgeblich angesehen, dass die entsprechenden Anweisungen, welche zu einem Zeitpunkt erteilt wurden, als ein bestimmter ärztlicher Eingriff noch nicht unmittelbar bevorstand, auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zugeschnitten sind (sog. Kongruenz von Patientenverfügung und ärztlichem Eingriff). Für die Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens gelten strenge Beweismaßstäbe, die der hohen Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter Rechnung zu tragen haben. Dabei ist nicht danach zu differenzieren, ob der Tod des Betroffenen unmittelbar bevorsteht oder nicht. Denn § 1827 Abs. 3 BGB bestimmt, dass es für die Verbindlichkeit des tatsächlichen oder mutmaßlichen Willens eines aktuell einwilligungsunfähigen Betroffenen nicht auf die Art und das Stadium der Erkrankung ankommt.
Rz. 19
In seinem Beschl. v. 6.7.2016 stellt der BGH klar, dass allgemeine Anweisungen nicht ausreichen, um einen konkreten Behandlungswunsch zu formulieren und damit eine unmittelbare Wirkung der Patientenverfügung zu erreichen. Von vornherein nicht ausreichend sind allgemeine Anweisungen, wie die Aufforderung, ein würdevolles Sterben zu ermöglichen oder zuzulassen, wenn ein Therapieerfolg nicht mehr zu erwarten ist. Die Äußerung, "keine lebenserhaltenden Maßnahmen" zu wünschen, enthalte ebenfalls für sich genommen keine hinreichend konkrete Behandlungsentscheidung. Die insoweit erforderliche Konkretisierung könne aber gegebenenfalls durch die Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen oder die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen erfolgen.
Rz. 20
Mit dem Beschl. v. 8.2.2017 konkretisierte der BGH im Rahmen der Beurteilung der Voraussetzungen einer für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bindenden Patientenverfügung diese Anforderungen weiter dahingehend, dass aus der Patientenverfügung heraus feststellbar sein muss, in welcher Behandlungssituation welche ärztliche Maßnahme durchgeführt oder unterlassen werden soll. Danach genügt eine Patientenverfügung, die einerseits konkret die Behandlungssituationen beschreibt, in der die Verfügung gelten soll, und andererseits die ärztlichen Maßnahmen genau bezeichnet, in die der Ersteller einwilligt oder die er untersagt, etwa durch Angaben zur Schmerz- und Symptombehandlung, künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Wiederbelebung, künstlichen Beatmung, Antibiotikagabe oder Dialyse, dem Bestimmtheitsgrundsatz.
Weiterhin kann die erforderliche Konkretisierung einer Patientenverfügung sich im Einzelfall bei einer weniger detaillierten Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen durch die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen ergeben. Ob in solchen Fällen eine hinreichend konkrete Patientenverfügung vorliegt, ist dann durch Auslegung der in der Verfügung enthaltenen Erklärungen zu ermitteln, so der BGH in seinem Beschl. v. 14.11.2018. Zusammenfassend hat die Rechtsprechung somit nachstehende Grundsätze für die Bindungswirkung einer Patientenverfügung geschaffen:
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Dieser müssen konkrete Entscheidungen des Betroffenen über die Einwilligung oder Nichteinwilligung in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen ... |