1. Behandlungswünsche
Rz. 24
Hat der oben genannte Prüfungsablauf ergeben, dass keine oder keine zur aktuellen Lebens- und Behandlungssituation passende Patientenverfügung vorliegt, hat der Betreuer/Bevollmächtigte nach § 1827 Abs. 2 BGB die Behandlungswünsche festzustellen. Behandlungswünsche können etwa alle Äußerungen eines Betroffenen sein, die Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den Anforderungen an eine Patientenverfügung i.S.d. § 1827 Abs. 1 BGB nicht genügen, etwa weil sie nicht schriftlich abgefasst wurden, keine antizipierenden Entscheidungen treffen oder von einem minderjährigen Betroffenen verfasst wurden. Auch eine Patientenverfügung, die nicht sicher auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Betroffenen passt und deshalb keine unmittelbare Wirkung entfaltet, kann als Behandlungswunsch Berücksichtigung finden. Behandlungswünsche können auch im Vorfeld mündlich geäußert worden sein. Sie sind insbesondere dann aussagekräftig, wenn sie in Ansehung der Erkrankung zeitnah geäußert worden sind, konkrete Bezüge zur aktuellen Behandlungssituation aufweisen und die Zielvorstellungen des Patienten erkennen lassen. Auch hier muss der Arzt die o.g. Indikationsprüfung sowie die Erörterung mit dem Betreuer/Bevollmächtigten unter Einbindung der Angehörigen gem. § 1828 BGB vornehmen. Sind sich Arzt und Betreuer über die ärztliche Maßnahme einig, hat der Betreuer/Bevollmächtigte aufgrund der festgestellten Behandlungswünsche zu entscheiden (§ 1827 Abs. 2 BGB). Der Unterschied zur bindenden Patientenverfügung ist, dass der Betreuer/Bevollmächtigte hier nicht die vorab getätigte Willenserklärung des Betroffenen abgibt, sondern eine eigene Willenserklärung. Diese unterliegt jedoch grundsätzlich der betreuungsgerichtlichen Überprüfung. Tatsächlich erforderlich wird die betreuungsgerichtliche Genehmigung aber nur dann, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der Betreute aufgrund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger dauernden Schaden erleidet und zwischen Betreuer/Bevollmächtigtem und behandelndem Arzt kein Einvernehmen darüber besteht, dass die Einwilligung zur oder Untersagung der ärztlichen Maßnahme dem Willen des Betroffenen entspricht (§ 1829 Abs. 4 BGB).
2. Mutmaßlicher Wille
Rz. 25
Sind den Beteiligten auch keine Behandlungswünsche des Betroffenen bekannt, ist gem. § 1827 Abs. 2 BGB der mutmaßliche Wille zu ermitteln. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, wobei insbesondere frühere Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betroffenen zu berücksichtigen sind (§ 1827 Abs. 2 S. 2 und 3 BGB). Allerdings kommt die Berücksichtigung eines solchen mutmaßlichen Willen des Betroffenen nur hilfsweise in Betracht, wenn und soweit der wirkliche vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit geäußerte Wille des Betroffenen nicht zu ermitteln ist. Liegt eine Willensbekundung des Betroffenen vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts den Betreuer. Der Wille des Patienten muss stets beachtet werden, unabhängig von der Form, in der er geäußert wird. Die Willensbekundung für oder gegen bestimmte medizinische Maßnahmen darf vom Betreuer nicht durch einen "Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen" des Betroffenen korrigiert werden.
Rz. 26
Das weitere Verfahren ist dasselbe wie bei der Ermittlung der Behandlungswünsche, insbesondere auch hinsichtlich des Erfordernisses der betreuungsgerichtlichen Genehmigung bei nichtbestehendem Einvernehmen zwischen Arzt und Betreuer/Bevollmächtigten. Ergeben die Ermittlungen, dass aufgrund fehlender oder nicht bekannter Äußerungen in der Vergangenheit oder nicht bekannte Wertvorstellungen, nicht auf einen mutmaßlichen Willen geschlossen werden kann, darf sowohl der Betreuer/Vorsorgebevollmächtigte als auch der Arzt davon ausgehen, dass der Patient zu der angestrebten ärztlichen Maßnahme seine Einwilligung erteilen würde.