Dr. iur. Olaf Lampke, Manfred Ehlers
a) Arbeitsverhinderung aus persönlichen Gründen
Rz. 242
Eine Ausnahme vom Grundsatz: "Kein Lohn ohne Arbeit" legt § 616 BGB fest. Der Arbeitnehmer und auch der freie Mitarbeiter verliert seinen Anspruch auf Arbeitsvergütung nicht dadurch, dass er für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person oder in seinen persönlichen Verhältnissen liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert war. Es muss sich demzufolge um ein subjektives, persönliches Leistungshindernis handeln, damit der Anspruch auf Lohnfortzahlung weiterbesteht. Voraussetzung ist aber, dass der Arbeitnehmer arbeitswillig ist (BAG v. 20.3.1985 – 5 AZR 229/83) und der Entgeltfortzahlungs-Anspruch nicht vertraglich abbedungen wurde (BAG v. 20.6.1995 – 6 AZR 202/83).
Rz. 243
Die Erbringung der Arbeitsleistung muss tatsächlich unmöglich (§ 275 Abs. 1 BGB) sein oder dem Arbeitnehmer nach gewissenhafter Prüfung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben nicht zugemutet werden können (§ 275 Abs. 3 BGB).
Rz. 244
Subjektive Verhinderungsgründe sind z.B. Beerdigungen, Geburt eines Kindes, notwendige Pflege eines kranken Kindes, Schließung von Schulen und Kindertagesstätten wegen einer Pandemie ("Schweinegrippe") ohne anderweitige Betreuungsmöglichkeiten, Eheschließung, Erfüllung religiöser Pflichten, Teilnahme an seltener Familienfeier, Wahrnehmung staatsbürgerlicher Pflichten (insb. Laienrichtertätigkeit, Ladung zu behördlichen oder gerichtlichen Terminen), Ablegung von Prüfungen (auch Fahrprüfung), dringlicher Arztbesuch (z.B. Blutabnahme). Die zur Arbeitsunfähigkeit führende eigene Erkrankung ist durch die Sonderregelungen des EFZG weitestgehend (Ausnahme z.B. freier Mitarbeiter) ausgeschlossen (Schaub, ArbRHB, § 97 Abs. 2 Rn 7). Im Einzelfall kann im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ein Leistungshindernis wegen der Abhaltung kurzzeitiger Gebete vorliegen, welches unter der Berücksichtigung betrieblicher Belange ermöglicht werden muss (LAG Hamm v. 26.2.2002 – 5 Sa 1582/01). Hingegen ist ein Arbeitgeber nicht verpflichtet, seinem Arbeitnehmer die Zeit zu vergüten, während der er die Arbeit unterbricht und eine Raucherpause einlegt (LAG Kiel v. 21.6.2007 – 4 TaBV 12/07).
Rz. 245
Objektive Leistungshindernisse, etwa Naturereignisse oder allgemeine Verkehrsstörungen ("Aschewolke"), unterfallen nicht dem Tatbestand des § 616 BGB, weil sie sich auf einen größeren Personenkreis erstrecken oder objektiv gegeben sind (Grüneberg/Weidenkaff, BGB, § 616 Rn 7). Anders aber, wenn nur ein einziges Verkehrsmittel ausfällt, z.B. wenn am Auto des Arbeitnehmers während der Fahrt ein Schaden entsteht.
Rz. 246
Der infektionsschutzrechtliche Entschädigungsanspruch gem. § 56 Abs. 1 IfSG fügt sich in dieses System ein. Nach § 56 Abs. 1 S. 1 und 2 IfSG haben Personen, die als Ausscheider (mit Einschränkungen), Ansteckungsverdächtige oder Krankheitsverdächtige i.S.v. § 2 Nr. 6, 7, 5 IfSG durch amtliche Anordnung abgesondert werden und dadurch einen Verdienstausfall erleiden, einen Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe ihres Verdienstausfalls. Da sich der Anspruch gegen das Land richtet, übernimmt die Allgemeinheit das Risiko, subsidiär gegenüber dem Arbeitgeber (siehe hierzu ausführlich Noak, NZA 2021, 251 ff.).
Rz. 247
Der persönliche Hinderungsgrund muss ursächlich für die unterbliebene Arbeitsleistung sein. Ist die Arbeitspflicht bereits aus anderen Gründen entfallen, z.B. wegen Streik, Aussperrung oder Urlaub, liegt der Tatbestand des § 616 BGB nicht vor (BAG v. 8.9.1982 – 5 AZR 283/80).
Rz. 248
Das Verschulden ist hierbei beschränkt auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (Rechtsgedanke des § 254 BGB). Der Entgeltanspruch entfällt bei einer leichtsinnigen, unverantwortlichen Selbstgefährdung oder einem groben Verstoß gegen das von einem verständlichen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhalten (Grüneberg/Weidenkaff, BGB, § 616 Rn 10).
Rz. 249
Die Verhinderungsdauer beschreibt einen verhältnismäßig nicht erheblichen Zeitraum, der grds. ereignisbezogen zu verstehen ist. Die Höchstdauer ist streitig. In keinem Fall erreicht die Dauer mehr als sechs Wochen (BAG v. 20.7.1977 – 5 AZR 325/76). Vorbehaltlich der Umstände des Einzelfalls sind bis zu fünf Tage eine "verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit". Dagegen ist die Regeldauer einer amtlich angeordneten Absonderung von 14 Tagen bei einer Vollzeittätigkeit regelmäßig erheblich (Noak, NZA 2021, 251 ff.). Nach Überschreitung der nach § 616 BGB gesetzten Erheblichkeitsgrenze kann ein zeitlich nicht eingegrenztes Leistungsverweigerungsrecht aus § 273 Abs. 3 BGB weiter bestehen. Die Vergütungspflicht des Arbeitgebers entfällt jedoch.
Rz. 250
Liegen die Voraussetzungen des § 616 BGB vor, wird der Arbeitnehmer gem. § 275 BGB von der Arbeitsleistung frei, der Arbeitgeber muss aber die Gegenleistung in Gestalt der Vergütung abweichend von § 326 Abs. 2 BGB erbringen. § 616 BGB ist eine anspruchserhaltende Ausnahme zu dem Grundsatz des § 326 BGB, wonach der Arbeitgeber von seiner Leistungspflicht frei würde...