Dr. iur. Olaf Lampke, Manfred Ehlers
Rz. 1041
Es entsteht ein Zurückbehaltungsrecht an der Arbeitsleistung, wenn der Arbeitgeber seiner Hauptleistungspflicht nicht nachkommt und mit der Lohnzahlung in Verzug gerät. Die Rechtsprechung stützt dieses dogmatisch auf § 273 Abs. 1 BGB (BAG v. 25.10.1984 – 2 AZR 417/83). Da der Arbeitnehmer gem. § 614 BGB vorleistungspflichtig ist, kann er seine Arbeitsleistung nicht für in der Vergangenheit liegende Lohnforderungen verweigern (anders: MüKo-BGB/Spinner, a.a.O., § 611 Rn 7; Däubler, Arbeitskampfrecht, a.a.O., § 28 Rn 38; hiernach sei auf die Einrede des nichterfüllten Vertrags gem. § 320 Abs. 1 BGB abzustellen). Zur Geltendmachung muss der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber unmissverständlich und unter Angabe des Grundes mitteilen, dass er von seinem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch macht. Dabei ist die Gegenforderung konkret zu bestimmen, sodass der Arbeitgeber den behaupteten Anspruch des Arbeitnehmers prüfen und gegebenenfalls erfüllen kann (BAG v. 19.1.2016 – 2 AZR 449/15).
Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts wird durch die Grundsätze von Treu und Glauben nach § 242 BGB begrenzt. Der Arbeitnehmer darf seine Arbeitsleistung nicht verweigern, wenn der Lohnrückstand verhältnismäßig geringfügig ist, nur eine kurzfristige Verzögerung der Lohnzahlung zu erwarten ist, wenn dem Arbeitgeber ein unverhältnismäßig hoher Schaden entstehen kann oder wenn der Lohnanspruch auf andere Weise gesichert ist (BAG v. 25.10.1984 – 2 AZR 417/83). Die Erheblichkeitsschwelle ist ab einem Zahlungsverzug von zwei Monatsgehältern überschritten (BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06).
Bei wirksamer Ausübung des Leistungsverweigerungsrechts gerät der Arbeitgeber in Verzug, der Arbeitnehmer behält gem. §§ 298, 615 BGB seinen Vergütungsanspruch. Zugleich ist im Falle berechtigter Leistungsverweigerung eine darauf gestützte Kündigung unwirksam (BAG v. 9.5.1996 – 2 AZR 387/95). Der Arbeitnehmer trägt grundsätzlich das Risiko, dass sich seine Rechtsauffassung als falsch erweist. Ein unverschuldeter Rechtsirrtum liegt nur vor, wenn er seinen Irrtum auch unter Anwendung der zu beachtenden Sorgfalt nicht erkennen konnte (BAG v. 22.10.2015 – 2 AZR 569/14). Die unberechtigte Ausübung hingegen kann arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen nach sich ziehen (BAG v. 13.3.2008 – 2 AZR 88/07; BAG v. 9.5.1996 – 2 AZR 387/95).
Rz. 1042
Erfüllt der Arbeitgeber seine – durch öffentliche Schutzvorschriften konkretisierten – Nebenpflichten aus § 618 BGB nicht, entsteht ein Zurückbehaltungsrecht des Arbeitnehmers, der seine Arbeitsleistung nach § 273 Abs. 1 BGB zurückhalten kann (BAG v. 19.2.1997 – 5 AZR 982/94; MüKo-BGB/Henssler, a.a.O., § 618 Rn 92). Ein Zurückbehaltungsrecht aus § 320 Abs. 1 BGB entsteht in diesen Fällen nicht, weil die Schutzpflichten arbeitsvertragliche Nebenpflichten darstellen und es am erforderlichen Gegenseitigkeitsverhältnis zur Dienstleistungspflicht des Arbeitnehmers fehlt (BAG v. 8.5.1996 – 5 AZR 315/95).
Eine objektive Pflichtverletzung ist ausreichend, eine konkrete Lebens- oder Gesundheitsgefahr muss nicht bestehen, anders jedoch bei spezialgesetzlichen Leistungsverweigerungsrechten wie z.B. gem. ArbSchG (vgl. unten Rdn 1044). Soweit es sich nicht um plötzlich auftretende, akute Gefahren handelt, sollte dem Arbeitgeber allerdings durch eine entsprechende Meldung, erforderlichenfalls auch mit Fristsetzung, zuvor eine Gelegenheit zur Reaktion gegeben werden. Damit kann dann auch die Erfüllung der Meldepflicht des Arbeitnehmers gem. § 16 ArbSchG dokumentiert werden. Der Arbeitnehmer kommt in solchen Fällen nicht in Leistungsverzug und verstößt nicht gegen arbeitsvertragliche Pflichten (vgl. Schaub, a.a.O., § 106 Rn 14).
Neben das allgemeine Zurückbehaltungsrecht mit dem Ziel der Veranlassung des Arbeitgebers zur Erfüllung seiner arbeitsschutzrechtlichen Pflichten treten ausdrückliche Leistungsverweigerungsrechte, wenn die Arbeitsleistung nur unter Verstoß gegen Vorschriften des Arbeitsschutzes erfolgen kann. Diese ergeben sich aus den arbeitsschutzrechtlichen Spezialnomen, z.B. dem ArbSchG (§ 9 Abs. 3 ArbSchG).
Rz. 1043
In pandemischen Lagen können besondere Leistungsverweigerungsrechte für den Arbeitnehmer bestehen. Ein solches kann sich aus § 273 Abs. 1 BGB ergeben, wenn eine erhöhte Gefährdungslage im Betrieb bei unzureichenden Arbeitsschutzmaßnahmen durch den Arbeitgeber vorliegt. Der Arbeitgeber muss den für die jeweilige Situation entsprechenden Arbeitsschutz gewährleisten, § 618 Abs. 1 BGB (§ 23 Rdn 8) und eventuell kurzfristig entsprechende Hygienekonzepte entwickeln, etablieren und wirksam umsetzen. Allein aus der Zugehörigkeit zu einer besonders gefährdeten Gesellschaftsgruppe, sog. Risikogruppe, kann kein Leistungsverweigerungsrecht abgeleitet werden. Dieses Recht steht dem Arbeitnehmer nur zu, wenn kein ausreichender Arbeitsschutz gegeben ist.
Daneben steht vor allem die persönliche Unzumutbarkeit der Leistung für den Arbeitnehmer nach § 275 Abs. 3 ...