Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 411
Ein Recht ist verwirkt, wenn der Berechtigte es längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet hat und nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde.
Rz. 412
Eine Verwirkung eines Unterhaltsrückstandes als ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung aufgrund widersprüchlichen Verhaltens kommt nur in Betracht, wenn sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde. Da ein Unterhaltsberechtigter lebensnotwendig auf den Unterhalt angewiesen ist, kann der Unterhaltsschuldner auch zeitnah mit der Durchsetzung der Ansprüche rechnen. Zudem sind im Unterhaltsrechtsstreit die für die Bemessung des Unterhalts maßgeblichen Einkommensverhältnisse der Parteien nach längerer Zeit oft nur schwer aufzuklären.
Rz. 413
Voraussetzung der Verwirkung des Unterhaltsrückstandes ist, dass der Gläubiger den Unterhaltsanspruch längere Zeit nicht geltend macht (Zeitmoment) und beim Schuldner den Eindruck erweckt, er werde diesen Anspruch nicht mehr geltend machen (Umstandsmoment). Neben dem reinen Zeitablauf müssen also immer auch besondere Umstände hinzutreten.
a) Zeitmoment
Rz. 414
Beim "Zeitmoment" ist i.d.R. von einem Jahr auszugehen. Aus § 1585b Abs. 3 BGB und § 1615i Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. folgt, dass das Gesetz bei Unterhaltsrückständen für eine mehr als einem Jahr zurückliegende Zeit dem Schuldnerschutz besondere Beachtung beimisst. Gerade bei Unterhaltsansprüchen sind an das sog. Zeitmoment der Verwirkung keine strengen Anforderungen zu stellen. Nach § 1613 Abs. 1 BGB kann Unterhalt für die Vergangenheit ohnehin nur ausnahmsweise gefordert werden. Daher verdient wegen der Regelungen in den §§ 1585b Abs. 3, 1613 Abs. 2 Nr. 1 BGB der Gesichtspunkt des Schuldnerschutzes bei Unterhaltsrückständen für eine mehr als ein Jahr zurückliegende Zeit besondere Beachtung. Diesem Rechtsgedanken kann im Rahmen der Bemessung des Zeitmoments in der Weise Rechnung getragen werden, dass das Verstreichenlassen einer Frist bereits von mehr als einem Jahr ausreichen kann.
OLG Brandenburg v. 29.4.2019 – 13 WF 91/19
Zitat
Das für die Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs vorauszusetzende Zeitmoment erfordert eine Passivität des Unterhaltsgläubigers für mehr als ein Jahr. Hierbei stehen nicht nur eine Aufforderung zur Auskunftserteilung, eine Bezifferung des Unterhaltsanspruchs oder eine Zahlungsaufforderung einer Passivität entgegen, sondern auch Vorgänge, die zwar nicht unmittelbar der Durchsetzung des Anspruchs, aber ihrer Vorbereitung dienen, wie etwa das Einräumen von Stellungnahmefristen, die eine weitere Sachverhaltsaufklärung ermöglichen sollen (vgl. BGH v. 15.9.2010 – XII ZR 148/09, FamRZ 2010, 1888 Rn 28).
Rz. 415
Praxistipp:
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Zwar trägt der Verpflichtete die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen der Verwirkung und damit auch für das Zeitmoment. |
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Allerdings muss der Berechtigte darlegen, wann und wie er den Anspruch geltend gemacht hat. |
Rz. 416
Einen gesetzlich geregelten Sonderfall der Verwirkung regelt § 1585b Abs. 3 BGB. Der Anwendungsbereich der Regelung in § 1585b Abs. 3 BGB, nach der Unterhalt für einen mehr als einem Jahr vor Rechtshängigkeit liegenden Zeitraum nur bei absichtlichem Entziehen von der Leistungspflicht verlangt werden kann, ist nicht auf den Zeitpunkt der Einreichung eines Verfahrenskostenhilfegesuchs zu erstrecken.
b) Umstandsmoment
Rz. 417
Ist das Zeitmoment erfüllt, tritt damit aber nicht automatisch eine Verwirku...