Dr. iur. Wolfram Viefhues
a) Grundsätzliche Bindungswirkung der vorhergehenden Entscheidung
Rz. 272
Nach dem Wortlaut von § 238 Abs. 4 FamFG kann im Abänderungsverfahren keine uneingeschränkte Abänderung des Beschlusses erreicht werden, sondern nur eine "entsprechende" Abänderung. Folglich kann die Abänderungsentscheidung nur eine unter Wahrung der Grundlagen des abzuändernden Titels vorzunehmende Anpassung des Unterhalts an die veränderten Verhältnisse vornehmen. Es kommt also keine neue, von der bisherigen Unterhaltshöhe unabhängige Festsetzung des Unterhalts in Betracht. Es handelt sich bei der zu treffenden Entscheidung um eine Anpassung, aber keine freie Neufestsetzung.
Rz. 273
Da die Abänderungsentscheidung unter Wahrung der Grundlagen des Ausgangsbeschlusses ergehen muss, ist dessen Bindungswirkung wie folgt festzustellen:
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Welche Umstände waren für die Bemessung des Unterhalts damals maßgebend, welche Bedeutung ist diesen Umständen beigelegt worden? (ggf. Auslegung erforderlich). |
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Welche Änderungen sind in diesen Umständen eingetreten und welche Auswirkungen ergeben sich daraus für den Unterhalt? |
Rz. 274
Danach kann sich die Bindung erstrecken auf:
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Einkommensverhältnisse, |
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die Bestimmung der dabei zu berücksichtigen besonderen Zu- und Abschläge, |
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die Anrechnung oder Nichtanrechnung bestimmter Einkommensarten, |
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die Einbeziehung fiktiver Einkünfte, |
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die Berücksichtigung von Belastungen, |
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Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit und zur Bedürftigkeit, |
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die Berücksichtigung weiterer Unterhaltspflichtiger und Unterhaltsberechtigter, |
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die Berücksichtigung eines Wohnvorteils, |
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die Feststellung einer bestimmten Bedarfsposition, |
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auf den Kinderzuschuss zur Rente, |
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auf die Nichtberücksichtigung einzelner Bedarfspositionen, z.B. der Krankenversicherungsbeiträge. |
Rz. 275
Keine Bindung besteht
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an Unterhaltsrichtlinien, |
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Tabellen oder Verteilungsschlüssel, |
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an die Art und Höhe der Besteuerung, die zu den Nettoeinkommen geführt hat, |
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auch nicht an die Berechnungsweise mit dem das mietfreie Wohnen berücksichtigt worden ist, |
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an die Bedarfsermittlung aufgrund der Erwerbseinkünfte, soweit ein durch den Eintritt in den Ruhestand bedingter Einkommensrückgang geltend gemacht wird. |
Enthält das/der abzuändernde Urteil/Beschluss keine bindende Feststellungen, ist der Unterhalt nach Maßgabe der zum Zeitpunkt der Abänderungsentscheidung gegebenen Rechtslage ohne Bindungswirkung neu zu bemessen. Eine Bindungswirkung besteht aber für zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zwar voraussehbare aber noch nicht eingetretene Umstände, wie z.B. der Eintritt eines Kindes in die nächsthöhere Altersstufe.
Rz. 276
Praxistipp:
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Konsequenz ist, dass auch eine Bindung an falsche Tatsachen im Grundsatz bejaht wird. |
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Ist also in der Ausgangsentscheidung ein Umstand fehlerhaft berücksichtigt worden, hat dies zur Folge, dass nach der Devise "einmal falsch – immer falsch" eine Fortschreibung eines einmal begangenen Fehlers vorzunehmen ist, z.B. bei im Vorverfahren "vergessenen" Fahrtkosten auf Seiten des Schuldners. |
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Ein früherer Fehler kann jedoch dann korrigiert werden, wenn die Fortschreibung in Form der Nichtberücksichtigung der Abänderungstatsache zu "unerträglichen Ergebnissen" führen würde. |
b) Ausnahmen von der Bindungswirkung
Rz. 277
Der BGH lässt Ausnahmen in folgenden Fällen zu:
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Änderung der Auslegung aufgrund verfassungsrechtlicher Entscheidung: Sofern eine Norm – trotz unveränderten Wortlauts – aufgrund verfassungsgerichtlicher Entscheidung anders ausgelegt wird als bisher, entfällt ausnahmsweise eine Bindung an die rechtliche Beurteilung im Ausgangsbeschluss. |
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Betrügerisches Verhalten im vorangegangenen Verfahren: Sofern die Gegenseite im Vorverfahren einen bestimmten Umstand verschwiegen hat mit der Folge, dass er im Ausgangstitel nicht berücksichtigt werden konnte, und sofern eine Fortwirkung dieses betrügerischen Verhaltens über den Präklusionszeitpunkt hinaus vorliegt, kann dieser Umstand ohne Bindungswirkung im Rahmen des Abänderungsantrags berücksichtigt werden. |
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Antragsabweisender Beschluss: Ein solcher – z.B. wegen fehlender Bedürftigkeit oder Leistungsfähigkeit ergangener – Beschluss hat keine Bindungswirkung für die Zukunft. Damit kann Unterhalt für die Zeit nach der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung mit dem Leistungsantrag geltend gemacht werden. |
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Selbst bei untragbaren Ergebnissen kommt die Korrektur eines ursprünglich vorhandenen Umstands nur in Betracht, wenn überhaupt ein Abänderungsantrag aufgrund nachträglicher wesentlicher Änderung der Verhältnisse vorliegt. |