Dr. iur. Wolfram Viefhues
Rz. 417
Ist das Zeitmoment erfüllt, tritt damit aber nicht automatisch eine Verwirkung der davon betroffenen Rückstände ein. Da die Verwirkung ein Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung aufgrund widersprüchlichen Verhaltens ist, muss zusätzlich das Umstandsmoment erfüllt sein.
Rz. 418
Das "Umstandsmoment" ist gegeben, wenn der Schuldner sich aufgrund des Verhaltens des Gläubigers darauf eingerichtet hat und nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf einrichten durfte, dass dieser das Recht auch in Zukunft nicht geltend machen werde. Zu dem Zeitablauf müssen also besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde seinen Anspruch nicht mehr geltend machen. Dabei kommt es jedoch nicht auf konkrete Vertrauensinvestitionen des Unterhaltsschuldners bzw. auf das Entstehen besonderer Nachteile durch die späte Inanspruchnahme an. Es genügt grundsätzlich der Erfahrungssatz, dass ein Unterhaltsverpflichteter seine Lebensführung an die zur Verfügung stehenden Einkünfte anpasst. Bei beengten Verhältnissen des Unterhaltspflichtigen bedarf es keiner besonderen Feststellungen dazu, dass sich dieser auf den Fortfall der Unterhaltszahlungen finanziell eingerichtet hat.
BGH, Beschl. v. 31.1.2018 – XII ZB 133/17
Zitat
1. Ein nicht geltend gemachter Unterhaltsanspruch kann grundsätzlich schon vor Eintritt der Verjährung und auch während der Hemmung nach § 207 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB verwirkt sein.
2. Das bloße Unterlassen der Geltendmachung des Unterhalts oder der Fortsetzung einer begonnenen Geltendmachung kann das Umstandsmoment der Verwirkung nicht begründen (Anschluss an BGH v. 9.10.2013 – XII ZR 59/12, NJW-RR 2014, 195).
Rz. 419
Praxistipp:
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Die Annahme einer Verwirkung setzt somit neben dem Zeitablauf das Vorliegen konkret festzustellender und zu würdigender besonderer Umstände des Einzelfalles voraus, die ein solches Vertrauen des Verpflichteten begründen. |
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Der Verpflichtete trägt die Darlegungs- und Beweislast. Ausreichender Sachvortrag ist unverzichtbar. |
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Es bedarf jedoch keiner besonderen Feststellungen dazu, dass der Unterhaltsschuldner sich tatsächlich auf den Fortfall der Unterhaltsforderungen eingerichtet hat, wenn Anhaltspunkte dafür, dass es im zu entscheidenden Fall anders lag, nicht ersichtlich sind. |
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Dass der Verpflichtete konkrete "Vertrauensinvestitionen" getätigt hat, ist nicht erforderlich; mit einem derartigen Verlangen werden die an das Umstandsmoment zu stellenden Anforderungen überspannt. |
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Das Umstandsmoment setzt nicht einmal voraus, dass der Unterhaltspflichtige überhaupt Kenntnis vom Bestehen seiner Unterhaltspflicht hatte. |
Rz. 420
Eine Verwirkung von rückständigen Unterhaltsansprüchen kann vorliegen, wenn der Unterhaltsgläubiger auf von ihm geforderte Auskunft über die Einkommensverhältnisse des Unterhaltsschuldners den Unterhaltsanspruch nicht beziffert. Dann kommt auch unter Berücksichtigung des Umstandsmoments ein Vertrauensschutz des Schuldners in Betracht.
Rz. 421
Das für die Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs beim Schuldner erforderliche Umstandsmoment fehlt, wenn der Unterhaltsschuldner zur Klärung des Anspruchs selbstständig an den Gläubiger herantritt. Unter diesen Umständen ist nicht feststellbar, dass der Schuldner sich darauf eingerichtet hat, der Unterhaltsberechtigte werde von der Prüfung seiner Ansprüche oder deren gerichtlicher Geltendmachung absehen.
Rz. 422
Weist der gegenüber einem volljährigen Kind Unterhaltspflichtige aber immer wieder auf die anteilige Mithaftung des anderen Elternteils und dessen wesentlich bessere Einkommenssituation hin, kann er nach längerer Untätigkeit des Unterhaltsberechtigten auf die Nichtgeltendmachung der Ansprüche vertrauen.
Rz. 423
Eine Verwirkung ist ebenfalls eingetreten, wenn der Unterhaltsgläubiger eine mit Gründen versehene Kürzung der laufenden Zahlungen des Unterhaltsschuldners hinnimmt; dabei brauchen die Gründe für die Kürzung nicht einmal schlüssig zu sein.