Prof. Dr. Götz Schulze, Dr. Sven Schilf
a) Bestimmung der einschlägigen Kollisionsnorm
aa) Auswahl (Qualifikation)
Rz. 97
Die einschlägige Kollisionsnorm ist zu bestimmen (sog. primäre Qualifikation). Das kann in Zweifelsfällen erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Durch Auslegung ist zu entscheiden, ob etwa eine bei der Eheschließung versprochene und nach der Trennung von der Ehefrau geltend gemachte Morgengabe des muslimischem Rechts (mahr) zu dem Statut der Ehewirkungen (Art. 14 EGBGB), dem Ehegüterstatut (Art. 3 EuGüVO), dem Unterhaltsstatut (Art. 3 u. 5 HUP) oder im Zusammenhang mit einem Erbfall zum Erbstatut (Art. 21 EuErbVO) zu rechnen ist. Ferner bestehen für einzelne Teilfragen (Geschäftsfähigkeit Art. 7 EGBGB, Todesfeststellung Art. 9 EGBGB, Form des Rechtsgeschäfts Art. 11 EGBGB, Vollmacht usf.) eigenständige Kollisionsnormen, die dann – nebeneinander angewendet – ein Mosaik des anzuwendenden Rechts ergeben.
bb) Zeitlicher Anwendungsbereich
Rz. 98
Sachverhalte mit Bezügen zu einer Zeit vor dem 1.9.1986 (Datum des Inkrafttretens der großen IPR-Reform) sind daraufhin zu prüfen, ob das neue oder das "alte IPR" zur Anwendung kommt (intertemporales Privatrecht). Für abgeschlossene Vorgänge (Heirat, Tod, Geburt) vor dem 1.9.1986 gilt altes Recht weiter (Art. 220 Abs. 1 EGBGB). Die Rom II-VO gilt für Schadensereignisse ab dem 11.1.2009 (Art. 31, 32), die Rom I-VO für Verträge, die ab dem 17.12.2009 geschlossen werden (Art. 28). Die Rom III-VO gilt für die Ehescheidung seit dem 21.6.2012, das Haager Protokoll gilt über die EuUnthVO seit 18.6.2011, die EuErbVO für Erbfälle ab dem 17.8.2015 (siehe Rdn 73) und die EuGüVO sowie die EuPartVO ab dem 29.1.2019 (siehe Rdn 63).
Rz. 99
Bei Vorgängen vor dem 3.10.1990 ist noch die frühere innerdeutsche Rechtsspaltung von Bedeutung, sofern ein räumlicher Bezug zum Territorium der früheren DDR besteht (interlokales Privatrecht). Sonderregeln für einzelne Bevölkerungsgruppen nach Religions- oder Stammeszugehörigkeit (interpersonale Rechtsspaltung), wie in vielen ausländischen Rechtsordnungen, kennt das deutsche Recht nicht (siehe Rdn 108).
b) Anwendung der einschlägigen Kollisionsnorm
aa) Typischer Sachverhalt zum Vertragsrecht – Internetauktion (Tatbestandsprüfung)
Rz. 100
A ist Franzose und lebt im Elsass. Er hat ein gebrauchtes Segelboot auf einer Internetauktion von B ersteigert. Der Verkäufer B ist ein Privatmann aus Düsseldorf. Der Plattformbetreiber ist eine spanische Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung (S.L.). Das Segelboot ist nicht gebrauchsfähig.
Rz. 101
Ansprüche des A gegen B aus dem Kaufvertrag.
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Vorrangiges Recht (EU, Staatsvertrag) besteht nicht oder ist nicht einschlägig (CISG). |
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Der Anwendungsbereich der Rom I-VO ist eröffnet. Keine Ausnahme (Art. 1 Abs. 2 lit. a–j). |
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Eine Rechtswahl hat nicht stattgefunden (Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO). |
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Der Schutz nach Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO gilt nicht für Privatgeschäfte unter Verbrauchern. |
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Maßgeblich ist das Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I-VO. B lebt in Düsseldorf. Maßgeblich ist danach deutsches Recht. |
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Keine Korrektur zugunsten eines Rechts, zu dem der Vertrag dennoch engere Verbindungen aufweist (Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO). |
Ergebnis: Deutsches Kaufrecht ist anwendbar und zwar bezüglich:
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Zustandekommen und Wirksamkeit des Kaufvertrags (Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO) sowie |
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bezüglich des in Art. 12 Rom I-VO beschriebenen Geltungsbereichs (Auslegung, Erfüllung, Leistungsstörungen, Erlöschen, Nichtigkeitsfolgen usf.). |