Prof. Dr. Götz Schulze, Dr. Sven Schilf
aa) Typischer Sachverhalt zum Vertragsrecht – Internetauktion (Tatbestandsprüfung)
Rz. 100
A ist Franzose und lebt im Elsass. Er hat ein gebrauchtes Segelboot auf einer Internetauktion von B ersteigert. Der Verkäufer B ist ein Privatmann aus Düsseldorf. Der Plattformbetreiber ist eine spanische Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung (S.L.). Das Segelboot ist nicht gebrauchsfähig.
Rz. 101
Ansprüche des A gegen B aus dem Kaufvertrag.
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Vorrangiges Recht (EU, Staatsvertrag) besteht nicht oder ist nicht einschlägig (CISG). |
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Der Anwendungsbereich der Rom I-VO ist eröffnet. Keine Ausnahme (Art. 1 Abs. 2 lit. a–j). |
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Eine Rechtswahl hat nicht stattgefunden (Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO). |
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Der Schutz nach Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO gilt nicht für Privatgeschäfte unter Verbrauchern. |
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Maßgeblich ist das Recht des Staates, in dem der Verkäufer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, Art. 4 Abs. 1 lit. a Rom I-VO. B lebt in Düsseldorf. Maßgeblich ist danach deutsches Recht. |
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Keine Korrektur zugunsten eines Rechts, zu dem der Vertrag dennoch engere Verbindungen aufweist (Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO). |
Ergebnis: Deutsches Kaufrecht ist anwendbar und zwar bezüglich:
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Zustandekommen und Wirksamkeit des Kaufvertrags (Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO) sowie |
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bezüglich des in Art. 12 Rom I-VO beschriebenen Geltungsbereichs (Auslegung, Erfüllung, Leistungsstörungen, Erlöschen, Nichtigkeitsfolgen usf.). |
bb) Sonderprobleme bei der Tatbestandsprüfung
(1) Präjudizielle Rechtsverhältnisse (Erstfragen)
Rz. 102
Werden in der Kollisionsnorm Rechtsbegriffe als Tatbestandselemente verwendet (Ehe, Verwandteneigenschaft, Eigentum, Forderungserwerb u.a.), so ist deren Vorliegen kollisionsrechtlich festzustellen. So verlangen etwa Art. 14 EGBGB (Ehewirkungen), Art. 22 EuGüVO (Ehegüterrecht), Art. 8 Rom III-VO (Scheidung) und Art. 3 u. 5 HUP (Scheidungsunterhalt) das Bestehen einer Ehe. Ob zwischen den Beteiligten eine Ehe besteht, ist kollisionsrechtlich nach Art. 13 Abs. 1 EGBGB, dh nach dem jeweiligen Heimatrecht der "Eheleute", zu bestimmen (Grundsatz der selbstständigen Anknüpfung von Erstfragen). (Zur parallelen Frage der Vorfragenanknüpfung bei präjudiziellen Rechtsverhältnissen im ausländischen Kollisionsrecht oder im berufenen Sachrecht vgl. Rdn 110).
(2) Staatsangehörigkeit und gewöhnlicher Aufenthalt
Rz. 103
Die Kollisionsnormen können auch folgende Rechtsprüfungen voraussetzen:
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Erwerb oder Verlust einer Staatsangehörigkeit. |
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Bestehen eines gewöhnlichen oder schlichten Aufenthalts. |
Die Staatsangehörigkeit einer Person wird ausschließlich nach dem Staatsangehörigkeitsrecht des betreffenden Staates, in Deutschland nach dem StAG bestimmt. Soweit der Erwerb oder der Verlust der Staatsangehörigkeit von privatrechtlichen Statusfragen abhängen (Eheschließung, Adoption usf.) sind diese Vorfragen nach dem Kollisionsrecht des Staates zu bestimmen, um dessen StA es geht (unselbstständige Anknüpfung). Die Frage des Erwerbs oder Verlusts ist für den jeweils maßgebenden Zeitpunkt (Geburt, Annahme als Kind, ggf. Eheschließung) festzustellen.
Rz. 104
Der gewöhnliche Aufenthalt ist der tatsächliche Daseinsmittelpunkt einer natürlichen Person. Die Abgabe rechtserheblicher Erklärungen ist dafür keine Voraussetzung. Von daher ist der untechnische Begriff "faktischer Wohnsitz" berechtigt. Abzustellen ist auf den Schwerpunkt aller sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen der Person. Nur im Falle einer entsprechenden gesetzlichen Anordnung greift ersatzweise der (schlichte) Aufenthalt (Art. 5 Abs. 2 Hs. 2, 24 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 EGBGB sowie Art. 12 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention). Ferner knüpft die dem Verkehrsschutz dienende Vorschrift des Art. 12 EGBGB an den schlichten Aufenthalt an. Der schlichte Aufenthalt ist jeder Ort, an dem sich die Person über eine gewisse Dauer hin aufhält. Nur flüchtige Kontakte (Durchreise, Ausflug usf.) genügen grundsätzlich nicht. Anders aber, wenn sich ein fixierbarer Lebensmittelpunkt für eine Person nicht finden lässt.