Prof. Dr. Götz Schulze, Dr. Sven Schilf
Rz. 17
Das einschlägige Kollisionsrecht ist zunächst gem. Art. 3 Nr. 1 u. 2 EGBGB zu ermitteln. Die im Inland geltenden Kollisionsnormen stammen danach aus dem Unionsrecht, aus völkervertraglichen Vereinbarungen und aus nationalem deutschen Recht.
I. Primäres Unionsrecht
Rz. 18
Art. 3 Nr. 1 EGBGB erklärt den Vorrang der "Regelungen der Europäischen Union in ihrer jeweils geltenden Fassung". Das primäre Unionsrecht, insbesondere der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), enthält keine unmittelbar anwendbaren kollisionsrechtlichen Bestimmungen, insbesondere keine allgemein geltende kollisionsrechtliche Regelung zugunsten des Herkunftslandes (dagegen ist in einzelnen Richtlinien bereits eine Regel zugunsten der Vorschriften des Herkunftslandes verankert, siehe Rdn 20) und auch kein Günstigkeitsprinzip zum Schutz der Grundfreiheiten. Der EuGH hat aus der Niederlassungsfreiheit für das Internationale Gesellschaftsrecht sowie aus der Unionsbürgerschaft für das Internationale Namensrecht jedoch ein (vorrangiges) primärrechtliches Anerkennungsprinzip für privatrechtliche Rechtslagen entnommen. Danach wird das Kollisionsrecht durch die Anerkennung von Rechtslagen überlagert und ergänzt.
II. Sekundäres Unionsrecht
1. EU-Verordnungen
Rz. 19
Mehrere EU-Verordnungen ersetzen im Umfang ihres Anwendungsbereiches das deutsche Kollisionsrecht (EGBGB) vollständig (Auflistung in Art. 3 Nr. 1 lit. a–g EGBGB):
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Die EG-VO Nr. 593/2008 v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I). Die Verordnung gilt für Vertragsschlüsse ab dem 17.12.2009 (Art. 28 Rom I-VO). Für Altfälle gelten die Art. 27 ff. EGBGB a.F., 3 ff. EVÜ. |
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Die EG-VO Nr. 864/2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) v. 11.7.2007 gilt für schadensbegründende Ereignisse ab dem 11.1.2009 (Art. 31 f.). Die Art. 38–42 EGBGB gelten außer für Altfälle noch für Spezialmaterien, wie etwa Persönlichkeitsdelikte, und wurden daher nicht aufgehoben. |
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Die Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18.12.2008 über die Anerkennung und Vollstreckung und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (EuUnthVO) verweist in ihrem Art. 15 auf das Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht. |
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Die Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts (Rom III) gilt für 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, seit 21.6.2012, für Litauen, Griechenland und Estland jeweils ab späteren Zeitpunkten (Art. 21 Rom III-VO). |
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EU-Verordnungen zum anwendbaren Recht im Ehegüterrecht (VO (EU) Nr. 2016/1103) und im Güterrecht von eingetragenen Partnerschaften (VO (EU) Nr. 2016/1104) (EuGüVO und EuPartVO = Rom IVa-VO und Rom IVb-VO) gelten ab 29.1.2019 für derzeit 18 Mitgliedstaaten (Art. 70 Abs. 2). |
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Die Verordnung (EU) Nr. 650/2012 vom 4.7.2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (EuErbVO = Rom V-VO) gilt für Erbfälle ab dem 17.8.2015. |
Die genannten Verordnungen gelten auch für Drittstaatensachverhalte, so dass sie in ihrem sachlichen Anwendungsbereich das nationale Kollisionsrecht vollständig ersetzen.
In anderen EU-Verordnungen kommen sehr vereinzelt ebenfalls Kollisionsnormen vor. Dabei handelt es sich um Sachnormverweisungen auf das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 1, 15 Abs. 1, 19 Abs. 1 EWIV-Verordnung (Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung), Art. 9 Abs. 1c, 5, 15 Abs. 1, 51, 53, 61–63 SE-VO (Societas Europaea); vgl. § 31, "Personengesellschaften", und § 1, "Aktienrecht") oder um Gesamtverweisungen, die auf das jeweilige nationale Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts verweisen, etwa bei einzelnen unionsweiten gewerblichen Schutzrechten (z.B. Art. 88 Abs. 2 VO Nr. 6/02 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster und ähnlich Art. 97 VO Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, nicht jedoch Art. 129 VO Nr. 2017/1001 über die Unionsmarke sowie Art. 7 i.V.m. Art. 5 Abs. 3 VO Nr. 1257/2012 über das Einheitspatent – EU-PatVO).
Eine – praktisch bedeutsame – Sonderstellung nimmt die in Art. 3 DS-GVO (= Datenschutzgrundveror...