Prof. Dr. Michael Fischer, Prof. Dr. Martin Cordes
Rz. 58
Das nationale Handelsbilanzrecht der Kapitalgesellschaften und Personenhandelsgesellschaften ohne natürliche Personen als Vollhafter (insb. GmbH & Co. KG) ist in weit reichendem Maße von einer europäischen Harmonisierung durch Richtlinien (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV (Art. 249 Abs. 3 EGV a.F.)) geprägt.
Hinweis
Die Richtlinien gelten nicht unmittelbar, sondern sind innerhalb bestimmter Frist durch die nationalen Organe im Mitgliedstaat in das nationale Recht umzusetzen.
Für das Handelsbilanzrecht sind drei Richtlinien von ganz zentraler Bedeutung, die allesamt durch das Bilanzrichtliniengesetz vom 19.12.1985 umgesetzt worden sind. Es handelt sich um die 4. EG-Richtlinie (Jahresabschlussrichtlinie) vom 25.7.1978, die 7. EG-Richtlinie (Konzernabschlussrichtlinie) sowie die 8. EG-Richtlinie (Prüferbefähigungsrichtlinie) vom 10.4.1984. Auch die branchenspezifische Rechnungslegung für Kreditinstitute und Versicherungen beruht auf Richtlinien, nämlich der Bankrichtlinie, Bankbilanzrichtlinie und der Versicherungsbilanzrichtlinie. Die neue Bilanzrichtlinie der EU vom 26.6.2013 ist inzwischen an die Stelle der 4. und 7. EG-Richtlinie getreten. Die Umsetzung erfolgte im Rahmen des BilRUG (s. Rdn 54). Handlungsbedarf bestand insbesondere im Hinblick auf das "Country-by-Country-Reporting" für große Unternehmen und Unternehmen des öffentlichen Interesses in der mineralgewinnenden Industrie und Primärforstwirtschaft und eine strukturelle Neuordnung der Anhangsangaben. Ersteres wurde im HGB lediglich für Unternehmen des Rohstoffsektors in den §§ 341q–341y HGB umgesetzt. Allerdings hat der Gesetzgeber im Zuge des AmtshilfeRLUmsG mit § 138a AO im Steuerrecht umfassende länderbezogene Berichtspflichten eingeführt. Mit den §§ 264 Abs. 1a, 268 Abs. 7, 284 Abs. 3, 285 Nrn. 11b, 14a, 15a sowie 30–34 HGB wurden neue Anhangspflichten geschaffen. Außerdem wurden teilweise auch bereits bestehende Angabepflichten geändert. Überdies wäre der Wesentlichkeitsgrundsatz, der bislang im deutschen Bilanzrecht noch nicht ausdrücklich verankert ist, zu kodifizieren gewesen. Die Wesentlichkeitsklausel (Materiality Clause) des Art. 6 Abs. 1 lit. J) lautet wie folgt: "Die Anforderungen dieser Richtlinie in Bezug auf Ansatz, Bewertung, Darstellung, Offenlegung und Konsolidierung müssen nicht erfüllt werden, wenn die Wirkung ihrer Einhaltung unwesentlich ist." Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei, den Anwendungsbereich auf die "Darstellung und Offenlegung" zu begrenzen. Als zentraler Diskussionspunkt wurde der Maßstab angesehen, nach dem sich Wesentliches von Unwesentlichem abgrenzen lässt. Trotzdem hat der Gesetzgeber von einer ausdrücklichen Regelung des Wesentlichkeitsgrundsatzes abgesehen. Für die Praxis bleibt es daher dabei, dass in Zweifelsfällen auf § 264 Abs. 2 HGB zurückzugreifen ist, der den Wesentlichkeitsgrundsatz zumindest implizit enthält.
Rz. 59
Die Jahresabschlussrichtlinie und Konzernabschlussrichtlinie haben vor Inkrafttreten der Bilanzrichtlinie 2013 mehrfache Änderungen erfahren. Aus deutscher Sicht besonders bedeutsam ist die GmbH & Co. KG-Richtlinie vom 8.11.1990, durch welche die Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, bis zum 1.1.1993 die erforderlichen Rechtsvorschriften zur Einbeziehung bestimmter Personengesellschaften in dem Anwendungsbereich der Bilanzrichtlinie zu erfassen. Die Umsetzungsfrist hat die Bundesregierung um mehr als sieben Jahre überschritten. Sie ist erst umgesetzt geworden, nachdem der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren am 22.4.1999 die Verletzung des EU-Vertrages festgestellt hatte. Diese Richtlinie und ihre (verspätete) Umsetzung stehen in engem Zusammenhang mit der Mittelstandsrichtlinie vom 8.11.1990. Sie regelt als Kompensation für die erweiterte Publizitätspflicht nach der GmbH & Co. KG-Richtlinie Erleichterungen für kleine oder mittlere Gesellschaften bei Aufstellung und Veröffentlichung des Jahresabschlusses.
Weitere Ergänzung ist die sog. Fair-value-Richtlinie vom 27.9.2001, die in die Jahresabschlussrichtlinie einen neuen Abschnitt "Bewertung zum Fair value" einfügt, mit dem erreicht werden soll, dass den Konzernen/Unternehmen vorgeschrieben oder gestattet wird, sämtliche Finanzinstrumente einschließlich der derivativen zum beizulegenden Zeitwert ("fair value") zu bewerten.
Die Modernisierungsrichtlinie vom 18.6.2003 erlaubt den Mitgliedstaaten, die Gliederung der Bilanz und der GuV-Rechnung auch bei nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen an die internationalen Standards anzupassen und beim Ausweis stärkeres Gewicht auf den "wirtschaftlichen Gehalt" zu legen. Obgleich die Richtlinie zu keinem umfassenden Paradigmenwechsel in der handelsrechtlichen Rechnungslegung führt, erlaubt sie doch auch Neubewertungen sowie weitere Bewertungen zum fair value ergänzend zu den Finanzinstrumenten. Eine weitere zentrale Vorgabe ist die Anpassung der Regelungen zum (Konzern-)Lagebericht dahingehend, dass in diesem mehr ent...